Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
dem Mantel des Einohrigen und verband damit notdürftig dessen heftig blutende Kopfwunde. Möglicherweise hatte der stöhnende Mann auch innere Verletzungen, weshalb David ihn nicht bewegen wollte. Außerdem hätte er den Gauner sowieso nicht weit schleppen können. Also schärfte er ihm noch einmal ein, er solle ja nicht sterben, und rannte dann die Treppe hinauf.
Eine Weile lang lief David durch die Straßen, klopfte an Türen, die sich nicht öffneten, und sprach Leute an, die sich ebenso verschlossen gaben, bis er endlich das House of St.-Barnabas-in-Soho erreichte. Sein Klingeln wurde erhört. Die alte Frau in der Tür war zwar ganz offensichtlich nicht der heilige Barnabas-in-Soho, aber sie hatte ein Telefon.
Wenig später kreuzten eine Ambulanz und die Polizei auf. David führte sie zu dem Verletzten. Doch noch ehe sie dem jungen Mann für seine beherzte Tat danken konnten, war dieser schon in der Dunkelheit verschwunden.
Das wäre beinahe schief gegangen!, dachte David. Wenn die Bobbys ihn auch nur etwas genauer angesehen hätten… Oder gab er schon ein so heruntergekommenes Bild ab, dass man in ihm gar nicht mehr den vermissten Jungaristokraten erkennen konnte? David betrachtete sein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe und erschrak. Er war zwar nicht gerade zerlumpt, aber seine diversen Selbstmordversuche hatten dem Mantel auch nicht unbedingt gut getan. Schmutzig, ohne jede Form, an einigen Stellen abgeschabt, sah das gute Stück aus wie die Pelerine eines obdachlosen Stadtstreichers. Ihn für einen solchen zu halten, erforderte also nicht sehr viel Phantasie.
So sieht also der Earl of Camden aus, dachte David. Erst jetzt wurde ihm das bewusst: Mit dem Tod seines Vaters würde er nicht nur das Camden-Vermögen, sondern auch den höchsten Titel der Familie erben. Nicht, dass ihm das jetzt noch etwas bedeutete. Nicht einmal seine Eltern wollte er mehr sehen. Die Erinnerung an sie sollte nicht durch das Bild ihrer kalten Leichen entstellt werden. Mit Schaudern dachte David an Vaters Schilderungen von dem auf so mysteriöse Weise dahingeschiedenen Pater Garrick aus Tunbridge Wells oder von diesem Grafen Zapata, dem es auch nicht besser ergangen war. Welche qualvollen Krämpfe mochten ihre Körper im Tode geschüttelt haben? Nein, David wollte seine Familie lebendig im Gedächtnis behalten, wenn er bald selbst aus dem Leben schied.
Der neue Plan war ihm eingefallen, während er vor dem House of St. Barnabas-in-Soho auf die Helfer gewartet hatte. Nachdem es keine Gefahr vonseiten des Bullen mehr gab, konnten sich seine Gedanken wieder frei bewegen. Die erste daraus resultierende Erkenntnis war die einer vertanen Gelegenheit. Wenn dieser einohrige Gauner nicht gewesen wäre, dann hätte sich David wundervoll umbringen lassen können. Der Bulle hätte ihm diesen kleinen Gefallen bestimmt getan. Messer und Pistole hatte er auch dabei. Alle Sorgen wären passe und David der Nutzlosigkeit des Seins endlich enthoben.
Weil es anders gekommen war, beschloss David in den Krieg zu ziehen. Ihm stand nicht der Sinn danach, andere Menschen umzubringen, ganz im Gegenteil. Noch immer tobte die Schlacht um Verdun und selbst die Zeitungspropaganda konnte nicht schönreden, was dort in Frankreich wirklich geschah. Zigtausende Soldaten waren schon gefallen und täglich kamen neue dazu. Es dürfte kein Problem sein, an der Front aus dem Leben zu scheiden.
Am nächsten Morgen stand David am Piccadilly Circus, in der Hand seine beiden Schwerter, als Erster vor dem Rekrutierungsbüro. Als es öffnete, war er immer noch der Einzige. Irgendwo in den schon anderthalb Jahre dauernden Wirren des Großen Krieges musste der frühere patriotische Enthusiasmus verloren gegangen sein. Zusätzlich dämpfend mochte auch die Anfang Januar vom britischen Parlament verabschiedete Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gewirkt haben. Auf jeden Fall hatte der zwischen zwei Formularstapeln sitzende Rekrutierungsbeamte viel Zeit sich mit David zu beschäftigen.
Der nicht sehr große Mann trug einen dunkelgrauen Rock. Im Gesicht spiegelte sich die kriegsentscheidende Wichtigkeit seiner Aufgabe wider: Die spitze Kinnpartie deutete selbstbewusst auf den Antragsteller. Das amtliche Lächeln spielte sich ausnahmslos unter einem gewachsten und gezwirbelten schwarzen Schnurrbart ab. Die dunklen Augen bewahrten dabei den der Situation angemessenen Ernst. Mehrere Reihen parallel verlaufender Runzeln auf der Stirn versinnbildlichten trefflich das
Weitere Kostenlose Bücher