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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Fluch leiden, der auf den Camdens lastete.
    Traurig wandte sich David von den qualmenden Überresten und dem suchenden kleinen Mann ab. Er wollte von seinem treuen Diener… nein, seinem Freund nicht gesehen werden. Nie mehr.
     
     
    Einige Tage lang streifte David durch Londons Straßen und lernte die schmutzige Seite der großen Metropole kennen. Er verfügte in dieser Hinsicht bereits über einige Vorkenntnisse. Seine Mutter war nach Vaters geistigem Tauchgang der Fabian Society beigetreten. Wie viele andere Damen der »besseren Gesellschaft« hatte sie eine Unzufriedenheit mit sich selbst verspürt, die sie auf ihr zu geringes soziales Engagement zurückführte. Auf der Suche nach einem sinnvollen Beitrag im Kampf gegen die Armut war sie dann auf die sozialistisch angehauchte Fabian Society gestoßen. Diese hatte in den Jahren vor dem Großen Krieg in einer repräsentativen Untersuchung von sage und schreibe einunddreißig Arbeiterfamilien die Ursachen für alle Übel des einfachen Mannes herausgefunden. Akribisch protokollierten die feinen Damen monatelang das Schuften, Hungern, Kränkeln, Siechen und Sterben der Armen und Ärmsten und legten dann einen Bericht vor, der nichts beschönigte: Acht Millionen Briten lebten unter erbärmlichsten Bedingungen.
    Aus der immensen Anstrengung, die man in die Erforschung der einunddreißig Arbeiterfamilien gesteckt hatte, erwuchsen zunächst Empfehlungen, etwa für neue Sozialgesetze zur Minderung der Risiken von Arbeitslosigkeit und Krankheit. Später wurden daraus auch Maßnahmen. So organisierte man Ferienlager auf dem Lande, die den Menschen zumindest für kurze Zeit Erholung in unverrußter Luft ermöglichten. Auch ein erweitertes Bildungsangebot verbesserte die Lebensqualität, weil nun mehr Menschen eine Berufsausbildung anstreben konnten – und in der Lage waren Groschenromane zu lesen. Im Hygieneunterricht wurde den verlausten Kindern zudem der Zusammenhang zwischen Reinlichkeit und Menschenwürde nahe gebracht.
    Aus den Erzählungen seiner Mutter hatte David einiges über die Unbilden des einfachen Lebens erfahren. Aber als er jetzt durch seine Heimatstadt (dieses Wort, Heimat, war für ihn unbegreiflicher als je zuvor) wanderte, warf er erstmals selbst einen Blick auf Londons ungeschminktes Gesicht. Es war eine überwältigende Erfahrung für ihn. Das Juwel des britischen Empire ruhte – wie die anderen neuen Millionenstädte auf dem Globus übrigens auch – in einer Fassung aus Unrat, Armut, Ratten und Gestank.
    Während seiner Streifzüge durch die Stadtbezirke diesseits und jenseits der Themse hielt sich David von allen Orten fern, an denen er leicht entdeckt werden konnte. Insbesondere gehörten dazu die Stadtpaläste der gehobenen Gesellschaft, illuminierte Geschäftsstraßen und Polizeireviere. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Sir William schon ein Heer von Polizisten auf ihn angesetzt hatte. Wenn dies auch in bester Absicht geschah, wollte sich David doch nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen: Er hatte beschlossen aus dem Leben zu scheiden.
    David wusste, dass die Kirche den Selbstmord als Todsünde betrachtete. Aber in seiner trümmerübersäten Gedankenlandschaft gab es keine Fixpunkte mehr, die ihm beim Finden eines Auswegs zur Orientierung dienen konnten. So bildete sich zwangsläufig folgende Kette von vermeintlich konsequenten Schlüssen, die in dem besagten Suizidplan gipfelten: Das Dasein hatte für David jeden Sinn verloren. Den Kreis der Dämmerung niederzwingen konnte er nicht. Dem letzten Skalenstrich auf der Messlatte seines Lebens entgegenwandern wollte er nicht. Seine Familie war von Negromanus ausgelöscht worden. Er hatte niemanden mehr, für den es sich zu leben lohnte. Also wollte er wenigstens noch einmal dem ihm auferlegten Zwang entgegentreten und sich selbst behaupten. Und wenn es nur im Tode war.
    Dieser abstrusen Logik folgten einige jämmerliche Versuche der Selbstentleibung. David ließ sich im Morgengrauen von der Tower Bridge fallen und wurde von einem Arbeiter im Ruderboot aus der Themse gezogen. Er warf sich vor eine Kutsche, deren Pferde sich augenblicklich stur stellten. Er versuchte es anschließend noch einmal mit einem motorisierten Biertransporter, dem just in diesem Moment ein Rad abbrach, was nur den Passanten etwas nützte, weil sie dadurch unverhofft in den Genuss von Freibier kamen. In einer Apotheke erstand er zu einem horrenden Preis (der größte Teil davon war die Bestechungssumme) ein

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