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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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auch keine Tränen darin. Nur eine Entschlossenheit, die er nicht zu deuten wusste, obwohl sie ihm Angst einjagte.

 
    Entwurzelt
     
     
     
    Niemand hatte ihn bemerkt. Ausgenommen die Katze. Aber die musste wohl gedacht haben, es sei ein monströs verwachsener Artgenosse, der da so lautlos über den Hof zum Hinterausgang schlich. Sie kannte David ja noch nicht, sonst hätte sie’s besser gewusst.
    Unter seinem dunkelbraunen Wollmantel trug der vermeintliche Kater zwei scharfe Krallen, eine längere und eine kürzere. David hätte in diesem Moment nicht einmal erklären können, warum er ausgerechnet die beiden japanischen Schwerter mitgenommen hatte. Vielleicht weil sie die letzten Relikte einer für ihn besseren Zeit waren. Damals wusste er noch, was die Worte »Geborgenheit« und »Zuhause« bedeuteten. Jetzt hatte er es vergessen.
    Er überquerte die Regent Street, die ruhig war wie ein schlafender Lindwurm. Das lag weniger an der frühen Stunde – an sechs Tagen in der Woche waren viele Menschen um diese Zeit bereits auf dem Weg in die Fabriken, in froher Hoffnung auf einen zehn- bis dreizehnstündigen Arbeitstag –, sondern vielmehr am heiligen Sonntag. Weil David die Entschlusskraft fehlte seine Richtung zu ändern, landete er mitten in Soho.
    Selbst hier, im Hauptquartier des Londoner Lasters, herrschte um diese Zeit eine angenehme Stille. Nur ab und zu sah man einen alkoholisierten Kriegsinvaliden in einer Ecke liegen oder eine Prostituierte, die ihren letzten Freier verabschiedete. Umgebracht wurde gerade niemand. Wie David gehört hatte, trugen die Zuhälter, Diebe und Erpresser ihre Meinungsverschiedenheiten ohnehin meist in stiller Abgeschiedenheit aus. Man wollte ja die Kundschaft nicht vergraulen. In der feinen Gesellschaft verursachte schon der Name dieses Stadtteils ein verächtliches Naserümpfen, was einige betuchte Herren nicht davon abhielt, die verruchten Etablissements von Soho, in manchmal grotesker Verkleidung, trotzdem aufzusuchen.
    David stand nicht der Sinn nach Vergnügungen, und was er auf dem Leibe trug, entsprang keiner besonderen Planung. Es war noch derselbe braune Tweedanzug, den er gestern in Camden Hall gegen seinen japanischen Hausmantel eingetauscht hatte. Beides – Haus und Mantel – existierte nicht mehr.
    Gewissheit über diese erschütternde Tatsache erlangte er etwa gegen sechs Uhr morgens. Nachdem er die Durchquerung von Soho überlebt hatte, zwang er seine Füße in der Charing Cross Road auf südlichen Kurs. Wenig später stand er hinter einem winterkahlen Busch und blickte verstohlen zu den rauchenden Trümmern seines Elternhauses hinüber. Hier und da gab es noch einige Brandnester, welche die Feuerwehrmänner mit ihren langen Schläuchen zu ertränken suchten. Es spielte keine Rolle, wie lange dieser Kampf noch dauern würde. Camden Hall war bereits bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
    Zufall war das nicht. Diese Überzeugung hatte sich in Davids Geist festgesetzt wie ein weidwundes Raubtier, das nach jedem anderen Gedanken schnappte, um ihn zu zerreißen. Der Schemen steckte hinter dem Brandanschlag. David erinnerte sich an Lieutenant Barepitchs Zusammenfassung der Zeugenaussagen. Da war von einem Mann mit breitkrempigem Hut und einem Umhang die Rede gewesen.
    Negromanus. Vater hatte die rechte Hand Lord Belials genau so beschrieben. Und jetzt will Negromanus mich töten, dachte David. Seine Hand wanderte zur Brust hinauf, wo sich der Siegelring des Schattenlords befand. David hatte ihn aus einem unbestimmten Gefühl heraus vor dem Verlassen von Hannibal’s Court aus der Schatulle genommen und an der goldenen Kette befestigt, die er seit frühesten Kindestagen um den Hals trug. Warum er den Ring nicht einfach mit dem Diarium zurückgelassen hatte, das wusste er nicht. Momentan fehlte ihm auch jeder Antrieb dieser Frage nachzugehen. Die Ruinen von Camden Hall waren ein Sinnbild seiner geistigen Verfassung.
    Mit einem Mal bemerkte er den kleinen braunen Mann, der sich hinkend aus Richtung Covent Garden dem Unglücksort näherte. Kaum dort angekommen, begann er den Hals zu recken, aufgeregt suchend herumzulaufen, immer wieder zwei Worte rufend: »Sahib David! Sahib David!«
    Einen Herzschlag lang fühlte David so etwas wie Erleichterung: Balu Dreibein hatte das Feuer also tatsächlich überlebt. Das war gut. David mochte den wortkargen Inder. Balu hatte Besseres verdient, als das Schicksal des Kutschers Sam zu teilen. Er sollte nicht auch noch unter dem

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