Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
getroffen wurden. Wütend und mit Tränen in den Augen lud er sie ab und suchte sich die nächsten Opfer. Manch ein Geretteter erlag auch später noch seinen Verwundungen, aber das tat dem Ruf, den sich der hagere Junge mit dem weißen Haarflaum in dieser Schlacht erwarb, keinen Abbruch. Ohne es zu wollen, wurde David am 1. Juli 1916 zum Helden.
    Für ihn selbst war das keine besonders erhebende Erfahrung. Je länger die Schlacht dauerte, je mehr Menschenleben diesem für ihn sinnlosen Krieg geopfert wurden, desto stärker wurde sein Hass gegen dessen Urheber. Warum wurde nicht endlich der Rückzugsbefehl gegeben? Weshalb schickten sie immer mehr dieser jungen Männer in den sicheren Tod hinaus? Während David die Verletzten barg, erinnerte er sich an die Aufzeichnungen seines Vaters. Lord Belial hatte sehr konkrete Vorstellungen geäußert, wie er den Menschen dabei helfen wollte, »ein neues Verhältnis zur Gewalt zu entwickeln«. Blutige »Kriege müssten zur Tagesordnung gehören«, lautete eine seiner Forderungen. David hätte nie geglaubt, dass der Kreis der Dämmerung so erfolgreich sein könnte.
    Viel später an diesem Tag fand er dann Nick. Er kauerte im Krater einer Mörsergranate und weinte wie ein kleines Kind. Mit viel gutem Zureden brachte David den Freund in Sicherheit. Zu dieser Zeit hatten die Kommandeure endlich ein Einsehen mit ihrer erfolglosen Truppe und riefen zurück, was noch am Leben war.
     
     
    Der erste Tag der Schlacht an der Somme war der schwärzeste in der Geschichte der Royal Army. Noch nie hatte sie in derart kurzer Zeit so hohe Verluste erlitten. Einundzwanzigtausend Männer verloren ihr Leben, sechsunddreißigtausend wurden verwundet – die Väter und Söhne einer ansehnlichen Stadt wurden an einem einzigen Tag niedergemetzelt. Die Deutschen hatten einfach Feldmarschall Haigs Kredo in ihrem Sinne umgedeutet: Tötet mehr Briten und Franzosen! Es war ein Triumph ihrer Ingenieure: Acht von zehn Gefallenen wurden durch die neuen, effektiven Maschinengewehre umgebracht.
    Auch auf der Seite der Alliierten verfügte man über diese furchtbare Waffe. Aber zum einen nutzten die schweren automatischen Gewehre wenig, wenn man zu ebener Erde gegen einen verschanzten Feind vorrückte, und zum anderen besaß Rawlinsons Vierte Armee längst nicht ein solch großes Arsenal wie die Deutschen. Die fünf französischen Divisionen hatten immerhin doppelt so viele Maschinengewehre wie die elf britischen. Dadurch schnitten sie gegen das in ihrem Abschnitt schwächere Verteidigungssystem der Deutschen etwas besser ab. Doch sie konnten keinen Nutzen aus diesem vermeintlichen Erfolg ziehen. Der Raumgewinn dieses Tages war praktisch gleich null.
    Die deutschen Verteidiger unter den britischen Gefallenen zu ersticken, hatte sich folglich als weniger gute Taktik erwiesen. Sogar Feldmarschall Haig sah das ein. Zwar hatte er die Materialschlacht ausgerufen, aber gerade vom »Material Mensch« war nicht genügend vorhanden, um die Offensive in der bisherigen Weise fortzusetzen. Deshalb verordnete er Rawlinson und dessen Vierter Armee jetzt eine etwas zurückhaltendere Gangart.
    Von nun an begann ein zermürbender Grabenkrieg. Die Ruhe des Heerlagers bei Amiens war für die meisten Rekruten bald nur noch eine ferne, unwirkliche, geradezu friedliche Erinnerung. Fröhlichkeit wich jetzt Zynismus, Ausgelassenheit oft einem hoffnungsleeren Dahintreiben. Man hatte den Tag überlebt. Na gut. Aber schon morgen konnte man selbst zu Kanonenfutter werden.
    Auch Nick lebte noch. In all seiner Zerrissenheit gab wenigstens das David noch einen gewissen Trost. Der Freund erholte sich wieder von dem Schock des ersten Kampfeinsatzes. Aber selbst der robuste Verstand dieses jungen Mannes hatte unter dem gnadenlosen Gemetzel gelitten. Nick sollte nie mehr so unbekümmert lachen können wie vor diesem Tag.
    David quälte am meisten, dass er nicht mehr Männer retten konnte. In den folgenden Tagen ging er noch viele Male hinaus und schleppte Verwundete zurück. Aber es waren nie genug. Das Klagen und Schreien der Zurückgelassenen verfolgte ihn bis in die Träume und wenn er erwachte, hörte er es immer noch.
    Wer draußen im Niemandsland getroffen wurde, war – sofern ihn David nicht zufällig auflas – noch übler dran als die in den Gräben Verwundeten. Oben starb so gut wie jeder elendig, wenn er nicht auf eigenen Füßen zum Arzt zurücklaufen konnte – manche nach Stunden, andere nach Tagen, einige litten sogar eine ganze

Weitere Kostenlose Bücher