Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
willkürlich von dem Offizier fallen gelassene Kartoffeln in der Luft. Der Captain grinste süffisant und sagte: »Wenn Sie meinen, diese zusätzliche Last mit sich herumschleppen zu können, meinetwegen. Vielleicht finden Sie ja einen Feind, den Sie mit Ihren Schwertern erschrecken können.«
Über die volle Bedeutung dieser Worte sollte sich David ratenweise klar werden. Erste Erkenntnisse stellten sich bereits jetzt ein, da er an Nicks Seite auf den Angriffsbefehl wartete. Sein Körpergewicht hatte in den letzten Stunden beträchtlich zugenommen. Jeder Soldat war nämlich mit einer Ausrüstung von etwa dreißig Kilo behängt. Bei David kamen noch die beiden Schwerter hinzu. Eine vorschriftsmäßige Erleichterung des Kampfgepäcks war nur möglich, wenn man Munition verschoss. Der Rest musste in die zu erobernde Stellung hinübergeschleppt werden.
Als beim ersten Tageslicht der Angriffsbefehl die Runde machte, begannen auch die bisher Unverzagten zu zittern. Der Schmutz in den Erdgräben, der ständige Kanonendonner und die vereinzelt umherpfeifenden Kugeln feindlicher Scharfschützen hatten so überhaupt nichts mit der idyllischen Jugendlageratmosphäre früherer Wehrübungen gemein. Unter der Last ihres Sturmgepäcks quoll die erste Angriffswelle aus den Gräben. Sie wurde aus elf britischen und fünf französischen Divisionen gespeist.
David und Nick warteten noch. Ihre Einheit war ja erst später an der Reihe. Beklommen sahen sie zu, wie ihre Kameraden aus den Gräben krochen. Von hier, nahe dem Örtchen Serre, bis nach Curlu schleppten die britischen Kämpfer ihr gewichtiges Marschgepäck nun im Schneckentempo auf die Feindstellungen zu. An ihrer Seite, bis hin nach Peronne, rückten die Franzosen vor. Über dem Niemandsland hing immer noch diese unheimliche Stille.
»Raus jetzt! Es geht los«, rief Corporal Liam O’Brien, ein untersetzter Mann mit Schnauzbart aus Belfast, dem David und sein Freund unterstellt waren.
Noch ein letzter tiefer Atemzug, dann kletterte David über eine Leiter hinauf. Hinter ihm folgte Nick.
»Ob wir sie wirklich schon alle erledigt haben?«, fragte Nick, nachdem sie eine Zeit lang über die in früheren Kämpfen aufgewühlte Erde gelaufen waren.
David zweifelte daran. »Das glaube ich nicht. Diese Ruhe gehört zu ihrer Taktik.«
»Noch nie gehört, dass man mit Ruhe jemanden umbringen kann.«
In diesem Moment eröffneten die Deutschen das Feuer und Chaos brach aus. Die Verteidiger hatten große Kaltblütigkeit bewiesen, als sie die vorrückenden Soldaten bis auf einhundert Meter herankommen ließen. Umso verheerender war jetzt die Ernte ihrer Maschinengewehre. Infolge der kompakten Masse des sich nähernden Gegners war es für sie praktisch unmöglich, danebenzuschießen. Die Angreifer wurden von den automatischen Waffen der Deutschen regelrecht niedergemäht.
Von nun an bestimmte eine Kakophonie des Todes die Szene. Das trockene Rattern der Maschinengewehre auf der einen Seite mischte sich mit den Schmerzensschreien der Getroffenen auf der anderen. Als schwinge ein riesiger Sensenmann sein Erntewerkzeug über dem Schlachtfeld, fielen die britischen Angreifer Reihe um Reihe.
David war irgendwo dazwischen. Der Missklang des Gefechts gellte ihm in den Ohren. Fassungslos nahm er das Bild der sterbenden Männer in sich auf. »Es war ein großes Morden mit Patronen, Artillerie, Äxten und Handgranaten, ein Donnern, Krachen, Brüllen, Schreien, als ob die Welt untergehen sollte.« So beschrieb später jemand das Grauen der Schlacht.
Obwohl die feindlichen Kugeln David umschwirrten wie wild gewordene Hornissen, dachte keine einzige daran, ihn zu treffen. Fast eine Minute lang starrte er fassungslos auf einen Kameraden hinab, dem ein Schuss das rechte Bein dicht über dem Knie aufgerissen hatte. Das Blut rann in Strömen aus der Uniform. Die Projektile zischten weiter an Davids Körper vorbei, als gebe es ihn überhaupt nicht. Endlich gelang es ihm, den Schock abzuschütteln. Er musste dem Verwundeten helfen. Selbst sterben konnte er später immer noch.
Schnell kniete er sich zu dem Soldaten nieder. »Hast du große Schmerzen?«
Die Antwort des Verletzten ging im Schlachtenlärm unter. Aber sein Gesicht verriet Zustimmung.
David wusste, der Mann würde sterben, wenn er ihm nicht schnellstens das Bein abband. Also zückte er sein Kurzschwert, schnitt sich den Riemen der Feldflasche des Kameraden zurecht und benutzte einen zufällig in der Nähe liegenden Stock, um die
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