Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Wortes. Und Hasser des Krieges sowieso.
»Ich möchte dir etwas schenken«, sagte Wilfred schüchtern.
David hob überrascht die Augenbrauen. »Du bist noch am Leben. Das ist für mich schon Geschenk genug.«
»Ich habe ein Gedicht geschrieben. Hier, nimm es.« Wilfred reichte seinem Retter einen gefalteten Zettel hin.
David nahm das Blatt und öffnete es.
»Es ist nicht besonders heiter«, fügte Wilfred schnell hinzu, als müsse er sich für seine poetischen Ergüsse entschuldigen.
»Nein, das ist es nicht«, antwortete David, nachdem er das Gedicht gelesen hatte. »Aber es staucht die Wahrheit auf wenige Worte zusammen. Du bist wirklich ein großer Künstler, weißt du das?«
»Red keinen Unsinn. Ich freue mich, wenn es dir trotzdem gefällt.«
»Das tut es wirklich«, bekräftigte David und überflog noch einmal die bewegenden Zeilen.
Glocken für sie, die wie Schlachtvieh sterben?
Der monströse Zorn der Kanonen
Das raue Rattern der Gewehre
Erschlägt ihr hastiges Flehen.
Kein Erbarmen, kein Gebet, kein Geläut
Als Lied der Trauer nur gellender Gesang
der irren Chöre heulender Granaten
Ruf aus letzter, düsterer Ferne.
Später, als David längst wieder seine Stellung bezogen hatte, dachte er noch lange über diesen feinsinnigen Menschen nach, den die Generäle in diesen Krieg geschickt hatten, ohne ihn überhaupt zu kennen. Die großen Lenker wussten nicht, welch kostbare Schätze sie hier vergeudeten. Sie würden es auch niemals erfahren.
Wie die beiden schreibenden Kameraden, so lehnten die meisten einfachen Soldaten diese große Metzelei ab, die man gemeinhin Krieg nannte. In den Gräben spielten sich jeden Tag neue grauenhafte Szenen ab und nicht selten war es die eigene Hand, die dazu Anlass gab.
Eines Abends, kurz nach der Rettung von Wilfred Owen, fiel David im Schützengraben, erschöpft und müde von den ständigen Strapazen, in einen Dämmerzustand. Plötzlich schreckte er hoch. Wieder einmal hatte ihm die Sekundenprophetie ein Bild gezeigt, das ihn Entsetzen lehrte.
»Nein!«, schrie er, so laut es ging. Aber es war zu spät. Was er vorausgesehen hatte, konnte er nicht mehr verhindern. Ein Kamerad ganz in seiner Nähe hatte eine Axt erhoben und sie auf sein Handgelenk niederfahren lassen. Die Klinge durchtrennte sauber Haut, Fleisch, Sehnen und Knochen. Der höchstens Zwanzigjährige wollte lieber als Krüppel leben, als hier noch länger einen langsamen Tod sterben.
Andere versuchten sich durch Desertion zu retten. Das wurde von der Generalität jedoch nicht gerne gesehen. Die Exekutionskommandos mussten in diesen Tagen des Öfteren ausrücken, um ihren eigenen Kameraden das anzutun, was der Feind bisher noch nicht geschafft hatte.
Wieder anderen brach einfach nur der Geist. David sah Rekruten, die, im sicheren Wissen bald zur Schlachtbank geführt zu werden, vor ihren Kommandeuren wie Schafe blökten. Ab und zu wurde auch von Meutereien gemunkelt, aber die Offiziere gaben sich alle Mühe derartigen Einfällen durch Beschäftigungstherapie außerhalb der Schützengräben vorzubeugen.
Seit einiger Zeit gab es kontinuierliche Fortschritte in der Somme-Operation. Diese Verbesserungen drückten sich weniger im Gebietsgewinn der Entente aus als in der Schwächung des deutschen Widerstands. Endlich glaubte Haig, sein Kredo werde sich erfüllen: Tötet mehr Deutsche!
Während der britische Oberkommandierende diesem Hirngespinst in immer neuen Anläufen nachjagte, sahen David und Nick weitere Kameraden leiden. Viele blieben ihr Leben lang verstümmelt. Andere kehrten einfach nicht mehr in die Gräben zurück. Bald gaben die Freunde es auf, engere Bekanntschaften zu schließen, denn zu groß war der Schmerz, den man empfand, wenn ein gerade gefundener Freund kurz darauf vor den eigenen Augen starb. Mit Sicherheit verloren viele Männer hier in den Gräben auf Dauer die Fähigkeit einen Menschen zu lieben. Sie wollten einfach niemanden mehr verletzen. Sie waren es leid, ihre Gefährten zu verlieren.
Mitte September warf Haig die ersten Tanks in die Schlacht. Aller Anfang ist bekanntlich schwer: Weil auf dem Weg zur Front schon siebzehn dieser technischen Wunderwerke ausgefallen waren, blieben für den Einsatz gerade noch neun übrig. Die großen, raupenbewehrten Stahlungetüme stanken, machten einen unsäglichen Radau und richteten wenig aus.
Dann, im Oktober, setzten die sintflutartige Regenfälle ein. Innerhalb kurzer Zeit verwandelten sie das Schlachtfeld in ein Meer
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