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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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handele es sich um bloße Bauernopfer im Schach. Wenn er selbst auch dazugehörte, dann konnte es ihm ja nur recht sein, fügte er im Geiste hinzu.
    Nick zuckte nur mit den Schultern. Der Feldmarschall wisse schon, was er tue. Man werde den Deutschen an der Somme die Hucke voll hauen und sie dann anschließend auch aus der Gegend von Verdun verscheuchen.
     
     
    Die britisch-französische Großoffensive am Flüsschen Somme begann Ende Juni mit einem Dauerbombardement der deutschen Stellungen. Eine Woche lang feuerten die britischen Geschütze im Verein mit den französischen 370-Millimeter-Mörsern. Zwanzigtausend Tonnen Granaten regneten auf die Deutschen nieder. Sogar aus der Luft wurden die Angriffe unterstützt. Haig versprach sich von dieser Maßnahme eine »säubernde« Wirkung. Seine Infanteristen würden, wie er meinte, anschließend bequem zu den gegnerischen Stellungen hinübermarschieren und sie einnehmen können. Sollte dort noch irgendjemand leben, so musste er von dem tagelangen Trommelfeuer entweder taub oder doch zumindest eingeschüchtert sein. Zur Erhärtung dieser Theorie schickte der britische Feldmarschall am 1. Juli 1916 sechzigtausend Soldaten los.
    Weil Schlachten per se etwas ziemlich Kompliziertes sind, hatte Haig ganz übersehen, dass der Feind aufgrund des Dauerbeschusses eventuell den Braten riechen könnte. Völlig abwegig muss für ihn die Möglichkeit einer daraus resultierenden Verstärkung der deutschen Verteidigungslinien gewesen sein. Selten hatte die alte Weisheit, dass Irren menschlich sei, tragischere Konsequenzen wie an diesem Tag.
    David und Nick befanden sich schon seit dem Vorabend am nördlichen Ende des gut vierundzwanzig Kilometer langen Abschnitts, den die Strategen für die Somme-Offensive ausgesucht hatten. Mit ihren Kameraden kauerten sie dicht gedrängt in den Schützengräben, die hier wie Kaninchenbaue das Land durchzogen. Die Nerven der Männer waren bis zum Zerreißen angespannt. Unter dem vorbereitenden Trommelfeuer der eigenen Geschütze hatte niemand schlafen können. Aber das war gewiss nicht der einzige Grund für die unzähligen blassen Gesichter, die verkrampften Hände an den Karabinern und die eingezogenen Köpfe unter den schüsselartigen Helmen.
    In den letzten Minuten vor dem Angriff kehrte eine gespenstische Ruhe ein. Der Boden war feucht vom Morgentau, die Uniformen klamm. Das aufgerissene Erdreich in den Schützengräben verströmte einen modrigen Geruch. David hörte jemanden in der Nähe husten. Dann vernahm er ein wohl bekanntes Schnippen.
    »Kannst du nicht wenigstens jetzt deine dämliche Münze stecken lassen?«, zischte er gereizt.
    Nick grinste. »Wieso, wenn es mich beruhigt?« Er schnippte das Geldstück ein weiteres Mal in die Luft.
    Die beiden gehörten einer Einheit an, welche zur Flankensicherung abkommandiert war. Sie würden der ersten Angriffswelle später in leicht hängender Position folgen. Sollte der undenkbare Fall eintreten, dass der britische Vormarsch ins Stocken geriet (mit einem Rückzug rechnete im Generalstab eh niemand), dann hatten sie die feindlichen Linien von der Seite her unter Beschuss zu nehmen.
    Auf dem Weg nach drüben wollte sich David abschießen lassen. Das war ihm die liebste Art zu sterben: ohne seinem Henker in die Augen zu sehen. Davids Bajonett war zwar, wie bei allen anderen auch, befehlsgemäß aufgepflanzt, aber es lag ihm fern, es vorschriftsmäßig einzusetzen: in Brust oder Bauch stechen, herumdrehen, herausziehen. Bis zum Erbrechen war ihnen diese Gebrauchsanweisung in praktischen Übungen eingebläut worden. Manche Rekruten hatten während der Ausbildungszeit völlig unmotiviert auf wehrlose Bäume oder Scheunenwände eingestochen, weil ihre neu erworbenen Reflexe von den tagelangen Wiederholungen übersensibilisiert waren.
    David verspürte nicht die geringste Lust irgendjemand den zu töten. Warum er allerdings seine Schwerter mit sich führte – er hätte es in diesem Moment nicht sagen können. Es war übrigens gar nicht so schwer gewesen, dem Captain die Genehmigung dieser nicht ganz normgerechten Ergänzung des Kampfgepäcks abzutrotzen. Na ja, möglicherweise war ihm dabei auch ein wenig seine naturgegebene Überredungskunst zu Hilfe gekommen. Jedenfalls hatte er dem Captain zunächst einen theoretischen Abriss der Wirkungsweise eines japanischen katana geliefert und ihm anschließend seine Fertigkeit im Umgang mit dieser Waffe praktisch demonstriert; er halbierte hierzu einige

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