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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schlagader abzuklemmen. Dann entledigte er sich seines Tornisters und lud sich stattdessen den Verletzten auf.
    Taumelnd lief er zu den eigenen Stellungen zurück. Hoffentlich traf ihn nicht gerade jetzt eine feindliche Kugel.
    Dann wäre der arme Kamerad verloren. Unterwegs sah David weitere stöhnende Männer am Boden liegen und ständig kamen neue hinzu. Erst jetzt bemerkte er das Fehlen seines Freundes. Hoffentlich hatte es nicht auch Nick erwischt!
    Oberhalb des Schützengrabens ließ David seine Last vorsichtig zu Boden sinken.
    »Wie heißt du?«, flüsterte der Kamerad, als sein Mund ganz nahe beim Ohr des Retters war.
    »David. Und du?«
    »Richard. Vielen Dank, David.«
    »Kein Ursache, Rick. Werde bald wieder gesund, verstehst du?«
    »Nach diesem Tag bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich das überhaupt will. Je eher ich wieder marschieren kann, desto früher werden sie mich in eine neue Schlacht schicken.«
    David brachte ein gequältes Lächeln hervor. »Ich muss jetzt wieder los. Mein Freund ist irgendwo da draußen.«
    »Du bist verrückt.«
    »Ich weiß.«
    In diesem Moment sah David unten im Schützengraben zwei Sanitäter vorüberlaufen und rief sie herbei. Mit vereinten Bemühungen wurde der Verletzte in die Deckung des Grabens hinabgelassen. David wartete nicht, bis er abtransportiert war, sondern lief schon wieder auf die gegnerischen Stellungen zu.
    Erneut drohte ihn die Fassungslosigkeit zu übermannen. An manchen Stellen bildeten die Toten einen regelrechten Teppich, so dicht wie die Reisstrohfasern einer Tatami-Matte. Die Deutschen schienen mit der ihnen eigenen Gründlichkeit schon im Voraus für jeden Briten eine Kugel reserviert zu haben. Und jetzt stellten sie ihre Lieferung zu.
    Verzweifelt ließ David den Blick über das Schlachtfeld schweifen. Nach Nick zu rufen, hatte wenig Sinn. Er würde ihn sowieso nicht hören. Also tappte er weiter über Krater und verstümmelte Körper hinweg. Die feindlichen Kugeln mieden ihn nach wie vor. Mit einer Mischung aus Abscheu und Sorge betrachtete David die vielen Toten, die überall herumlagen – je näher er den deutschen Stellungen kam, desto dichter. Die Maschinengewehre hatten grässliche Wunden gerissen. Manche Gliedmaßen hingen nur noch an wenigen Sehnen oder Gewebefasern. Anderen Opfern war der halbe Kopf weggesprengt worden. Überall bedeckten Gedärme den Boden. Ein furchtbarer Gestank nach Blut und Exkrementen lag über dem Schlachtfeld.
    Würgend kämpfte sich David weiter voran. Von Nick fehlte jede Spur. Allein der ohrenbetäubende Lärm konnte einen Mensch schon um den Verstand bringen. Am schlimmsten waren für David aber die Schreie der Verletzten. Er gab keinen einzigen Schuss ab. Wozu noch diesen Wahnsinn vermehren? Ohne jedes Zeitgefühl stolperte er über das Schlachtfeld. Tränen liefen über seine Wangen und er bemerkte es nicht einmal. Es war unglaublich! Einfach unfassbar! Seine Augen tasteten flüchtig über leblose oder sich noch krümmende Leiber. Stellenweise lagen die Gefallenen so hoch übereinander, dass man dahinter vor der gegnerischen Artillerie Deckung nehmen konnte. Aber daran war David überhaupt nicht gelegen.
    Irgendwann stellte sich bei ihm die Erkenntnis ein, dass Nick noch leben musste. Er hätte es bestimmt gespürt, wenn seinem Freund etwas zugestoßen wäre, ebenso wie er vor Wochen den Tod seiner Eltern gefühlt hatte. In diesem Augenblick fasste David einen neuen Entschluss: Er mochte ja mit dem Leben hadern, aber solange der Tod sich noch bei ihm zierte, wollte er die ihm verbleibende Zeit wenigstens sinnvoll nutzen.
    Eine Bewegung in der Nähe führte David seinem nächsten Patienten zu. Die Schulter des Mannes war von mehreren Kugeln zertrümmert worden. Er litt unter einem Schock, David brachte seinen Mund ganz nahe an das Ohr des Verletzten, redete einen Moment beruhigend auf ihn ein und half ihm dann beim Aufstehen. Er legte sich den gesunden Arm des Kameraden über die Schulter und brachte ihn, halb stützend, halb schleifend, zu den Sanitätern zurück.
    David hätte nicht sagen können, wie oft er noch hinausgegangen und mit Verwundeten zurückgekehrt war. Was für eine Ironie! Er war in diesen Krieg gezogen, um zu sterben, und nun störte ihn dieser Gedanke jedes Mal, wenn er wieder einen blutenden Kameraden gefunden und sich dessen Rettung aufgebürdet hatte. Zweimal machte er eine furchtbare Erfahrung, als die Verletzten, noch während er sie auf den Schultern trug, von tödlichen Kugeln

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