Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
jetzt wieder los.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, David. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, nach dem Krieg, meine ich.«
»Ich würde mich freuen. Also, pass gut auf dich auf.«
Zur Verwunderung des Deutschen verließ David den Schützengraben erhobenen Hauptes, als wären Mücken das Gefährlichste, was hier herumschwirrte.
Auf dem Weg zurück zu den eigenen Stellungen musste David an die Erzählungen einiger Kameraden denken. In diesem Krieg hatte sich die Menschlichkeit manchmal auf seltsame Weise gegen den von oben befohlenen Hass behauptet. Dieser wurde im Großen Krieg wie nie zuvor von den Zeitungen in der Heimat geschürt. Berichte von angeblichen Gräueltaten des Feindes an Frauen und Kindern sollten die kämpfende Truppe motivieren. Erstaunlich wenige aber ließen sich davon aufhetzen.
Ein rothaariger Schotte namens Dean Arbuthnot hatte gegenüber David sogar behauptet, er und einige seiner Kameraden seien Weihnachten 1915 aus ihren Gräben hinüber zum Feind gekrochen. Mit den Deutschen habe man gemeinsam ein paar besinnliche Stunden verbracht und sich anschließend wieder zu den eigenen Stellungen zurückbegeben. Es gehörte zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten dieses Krieges, dass viele Soldaten ihren Kameraden auf der gegnerischen Seite näher waren als dem eigenen Kommandanten, der sie so leichtfertig hinopferte.
Mit fortschreitender Stunde lichtete sich der Nebel und David gewann seine Orientierung zurück. Er beschloss zunächst einmal zu den eigenen Stellungen zurückzukehren, um sich neue Befehle zu holen. Vielleicht stieß er unterwegs ja auch auf Nick.
Auf dem Rückweg suchte er mit wachsamen Augen das Schlachtfeld ab. Hier und da entdeckte er unter den Toten einige Schwerverletzte, die vermutlich nicht einmal den Transport zurück zum Graben überleben würden. Zähneknirschend ließ er sie liegen. Er wusste, dass die Sanitäter ihm diese Männer nicht einmal abnehmen würden. Es gab einfach zu viele, die ärztliche Hilfe brauchten, da wollte man nicht die Zeit mit hoffnungslosen Fällen verschwenden. Ein Stöhnen zu seiner Linken ließ David vom Weg abweichen. Kurz darauf kniete er bei einem weiteren Verletzten.
Der junge Schütze hieß Wilfred Owen. Eine Explosion hatte ihn gegen eine zersplitterte Lafette geschleudert und ihm beide Schienbeine gebrochen. Eines war grotesk zur Seite gebogen. Notdürftig richtete und schiente David die Knochen. Wilfred verlor unter den grauenhaften Schmerzen die Besinnung. Erst als David sich daranmachte, ihn zu den eigenen Gräben zurückzuschleppen, erwachte der Soldat wieder. Unterwegs sprach David dem Verletzten Mut zu. Zum Glück habe Wilfred weder offene Brüche noch durch andere Verletzungen Blut verloren. In sechs oder acht Wochen würde er schon wieder herumspringen wie ein junger Hirsch.
David spreche wie ein Poet, antwortete Wilfred und erzählte, dass er selbst Gedichte verfasse, um die grauenvollen Eindrücke des Krieges zu verarbeiten. Was er gesagt habe, sei nur aus dem Bibelbuch Jesaja, erwiderte David bescheiden, gestand dann aber doch seine eigene Schwäche fürs Schreiben. Im Stillen flehte er zu Gott, dieser möge seinen geschulterten Pflegebefohlenen vor den feindlichen Kugeln bewahren. Ein schnippendes Geräusch unterbrach sein Gebet.
David horchte auf, dann sah er, wie sich eine große Gestalt in englischer Uniform näherte. »Nick! Habe ich mich also nicht verhört. Du solltest dich nicht darauf verlassen, dass ich der Einzige bin, der das Werfen deiner Münze bemerkt. In dieser Gegend wimmelt es von Scharfschützen.«
Nicolas zuckte die Achseln. »Weiter als zweihundert Yards kann man bei dieser Brühe sowieso nicht sehen.« Dann erst schien er den Körper auf Davids Schultern zu bemerken. »Hätt ich mir denken können, dass du schon wieder ramponierte Kameraden durch die Gegend schleppst. Komm, ich helfe dir.«
Gemeinsam trugen sie den Dichter Wilfred Owen in die Gräben zurück. Weil gerade kein Sanitäter zur Hand war, brachten sie den Verletzten selbst ins Lazarett. Dieses befand sich im zweiten Untergeschoss des weitläufigen Schutzsystems. An manchen Abschnitten drangen die Gräben und Tunnels hier sogar mehrere Stockwerke tief in die Erde hinein. Sie beherbergten Befehlsstände, Unterkünfte, Küchen und eben auch Lazarette.
Am Abend besuchte David den nun fachmännisch geschienten Poeten. Irgendwie fühlte er eine Seelenverwandtschaft zu diesem Menschen. Beide waren sie Freunde des geschriebenen
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