Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
unerwähnt.
»Das kann ich gut verstehen, mein Sohn«, antwortete der Geistliche, dessen Augen unruhig hin und her sprangen. Vielleicht hatten sie schon zu viele verendete Schaff lein gesehen.
David erzählte die Geschichte jenes Mittwochs Anfang Oktober. Er begann bei dem Schemen am Morgen und sogleich merkte der Geistliche auf. Schon nach den ersten Schilderungen unterbrach der Priester seinen »Sohn« und David spürte erste Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussprache.
»Exterminans!« , zischte der Priester, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. Als David sein Unverständnis zum Ausdruck brachte, fügte der Schwarzrock hinzu: »Das ist Lateinisch. Es bedeutet ›Vernichter‹, ›Entferner‹ – ein Wort aus der Apokalypse des Johannes. Ich habe schon von anderen armen Seelen gehört, die ihn gesehen haben wollen. Erzähl weiter! Was ist dann passiert?«
David gefiel die seltsame Erregung des Geistlichen ganz und gar nicht. Aber nun war er schon einmal hier und setzte seinen Bericht fort. Als er auf Nicks Unheil bringendes Spiel mit der Münze zu sprechen kam, rollten ihm wieder Tränen über die Wangen. »Warum war Nick nur so leichtsinnig? Manchmal denke ich, er wollte sterben. Ehrlich gesagt geht es mir genauso. Ich habe sogar alles versucht, um in den Kugeln des Feindes meinen Frieden zu finden, aber es gelingt mir nicht.«
In den Augen des Feldgeistlichen lag ein merkwürdiges Flackern. Eine Weile lang sah er David nur eindringlich an und dann brachen die Worte plötzlich aus ihm heraus, als hätte irgendein Geist von ihm Besitz ergriffen. »Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, werden ihn aber keineswegs finden, und sie werden zu sterben begehren, aber der Tod flieht fortwährend vor ihnen«, deklamierte er mit der Stimme eines Unheilspropheten.
»So steht es in der Apokalypse. Doch keiner, der verurteilt ist, kann sich dem göttlichen Strafgericht entziehen. Andererseits darf niemand, den der Herr mit einem heiligen Auftrag betraut hat, wie der Prophet Jona einfach davonlaufen. Willst du nicht im Bauche eines Fisches enden, so nimm deine Bestimmung an…«
David hatte das verschwommene Gefühl, dieser »Auftrag« von oben, diese ihm auferlegte »Bestimmung«, könne etwas mit dem Töten anderer Menschen zu tun haben. Entsetzt blickte er in das verzückte Glühen auf des Priesters Gesicht, aus dem immer noch Durchhalteparolen sprudelten wie aus einer heißen Quelle. Da war von Rache die Rede und vom Gottesgnadentum des Königs, also gewissermaßen vom Segen der höchsten Instanz für die »notwendigen Maßnahmen in dieser leidgeprüften Zeit«. David konnte nicht fassen, was er da hörte. Der Wahnsinn des Krieges musste sich ins Hirn dieses armen Menschen gefressen und ihm bleibenden Schaden zugefügt haben.
Zutiefst enttäuscht und noch niedergeschlagener als zuvor kehrte David dem Geistlichen den Rücken. Er hatte Trost gesucht, um über den Verlust seines besten Freundes hinwegzukommen, und bekam stattdessen Hass aufgetischt. Traurig verließ er das Zelt des Seelenhirten, der ihm noch einen Schwall heißer Anfeuerungen hinterhersandte. Nun begann für ihn eine Zeit, in der er sich nur noch verlassen, leer und unnütz fühlte.
Weil im November der Schlamm in Flandern jede vernünftige Kriegführung unmöglich machte, schlug ein Offizier des Tank-Korps, Colonel J. F. C. Füller, vor, sich die Zeit bei Cambrai anderweitig zu vertreiben. Er wollte gerne eine neue Taktik ausprobieren. Unter den skeptischen Blicken Haigs entwickelte er die Idee einmal ohne vorhergehende Bombardements anzugreifen, dafür aber nicht mit den relativ schlecht gepanzerten Infanteristen, sondern mit einer erquicklichen Anzahl von Tanks.
Der Vorschlag wurde schließlich doch – wenn auch auf ziemlich unkluge Weise modifiziert – gutgeheißen und so machten sich dreihundertvierundzwanzig Panzer auf, bei Cambrai die Breschen zu schlagen, in die anschließend die sechs Divisionen von Sir Julian Byngs Dritter Armee springen sollten. Weil ein derart massiver Angriff von Tanks bisher noch in keinem Geschichtsbuch zu finden war, zeigten sich die Deutschen einigermaßen überrascht. Mit dem ersten Stoß ging Byng aber die Luft aus und so konnten die Deutschen zehn Tage später einen Gegenschlag anbringen. Das Ende der Sache war: Die Briten verloren drei Viertel des schon gewonnenen Terrains, hatten aber bewiesen, dass Überraschung, kombiniert mit dickwandigen Kanonenrollern, eine viel
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