Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Jacke seines Vorgesetzten und versuchte ihn von seiner Tat zurückzuhalten. Er beschränkte sich dabei auf mahnende Worte. Jeder schärfere Widerspruch hätte ihn vermutlich vor ein Erschießungskommando gebracht.
»Halt!«, schrie David auf Deutsch, um sich bemerkbar zu machen. Vielleicht genügte ja das schon, um die Lage zu entschärfen. Er hoffte, das erhobene Langschwert in seinen Händen würde seiner Forderung etwas mehr Nachdruck verleihen.
Der Offizier, der gerade den Rock des Mädchens hochstreifen wollte, drehte sich zu ihm um. In seinem Gesicht malte sich Überraschung, eher ob der ungebetenen Störung als wegen des Auftrittes eines feindlichen Soldaten. Der Gefreite blickte unsicher zwischen seinem Vorgesetzten und David hin und her.
»Verschwinde!«, rief der Offizier, erstaunlicherweise auf Englisch.
»Das werde ich nicht tun«, erwiderte David, wieder in Deutsch. Zur Unterstreichung seiner Entschlossenheit trat er einen Schritt näher heran und hob mit beiden Händen sein katana.
Der Gefreite versuchte unauffällig sein geschultertes und mit einem Bajonett gekröntes Gewehr in eine kampftaugliche Position zu bringen.
»Das würde ich nicht tun, mein Freund«, sagte David drohend.
Diese winzige Ablenkung hatte genügt, um den Offizier zu einer unklugen Tat zu ermutigen. Plötzlich ging alles ganz schnell und das Schlimme war: David sah alles voraus.
Rebekka schrie entsetzt auf, weil der Offizier über ihr mit einem Mal seinen Degen zückte.
Auch David schrie ein lautes, langes Nein, weil die Unvermeidlichkeit des nun Kommenden ihn schier zu übermannen drohte. Dennoch schwang seine Rechte das katana gegen den Lüstling, während er mit der Linken nach dem Kurzschwert griff. Hinter ihm, das wusste er, flog das Bajonett des Gefreiten auf ihn zu. In einem weiten Bogen erreichte das Langschwert den Hals des Offiziers, noch bevor dieser seinen tödlichen Degenstoß anbringen konnte. Aber für das Bajonett kam David zu spät.
Was hätte er tun sollen? Für ihn gab es nur diese Wahl: entweder sein Leben oder das des Mädchens.
Der deutsche Gefreite war noch jung und unerfahren. Sonst hätte er die größere Reichweite seiner Waffe besser genutzt. Als sich die Klinge des Bajonetts in Davids Rücken fraß, drang gleichzeitig auch das wakizashi in die Brust des Soldaten.
Einen Moment lang herrschte Stille. Auch Rebekka war vom Schock wie gelähmt. David sah, wie der Kopf des Offiziers zur Seite kippte. Das Schwert hatte dessen Haupt nicht ganz vom Rumpf getrennt. Mit einer seltsamen Überraschung in den Augen sank er neben dem Mädchen zu Boden.
Erst jetzt spürte David den eigenen Schmerz, und das auch nur, weil ihm der Gefreite im Zurücktaumeln das Bajonett wieder aus dem Rücken gezogen hatte. Das warme Brennen verriet ihm, wie es um ihn bestellt war. Mit dem Blut würde auch das Leben aus seinem Leib rinnen. Ironischerweise war er jetzt, als sich sein lang gehegter Wunsch endlich erfüllte, auch nicht zufrieden. Wer sollte nun für ihn Nicks Münze weiterreichen und wer Wilfreds Gedicht veröffentlichen?
Mit bleischweren Beinen drehte sich David um und blickte in das bleiche Gesicht des deutschen Gefreiten. Er entdeckte darin einen Ausdruck, wie man ihn bei Menschen findet, die sich völlig überrumpelt fühlen. Das Kurzschwert steckte noch immer in seiner Brust. Jetzt geriet der Deutsche ins Wanken. Er taumelte einen Schritt rückwärts, stolperte und fiel der Länge nach hin. Die ganze Zeit hatte er seine Augen auf David gerichtet.
Der sah sich noch einmal nach dem Mädchen um. Irgendwann würde dieser Tag für sie nur noch wie ein böser Traum sein. David wusste nicht, wie viel Zeit ihm selbst noch blieb. Also lächelte er dem Mädchen wie zum Abschied zu und kniete sich dann neben dem sterbenden Kameraden nieder.
»Warum hast du das nur getan?«, fragte er vorwurfsvoll, jedoch eher bedauernd als streng. Bald würde der junge Deutsche der Zweite sein, den er in diesem Krieg getötet hatte.
»Er war mein Vorgesetzter«, keuchte der Gefreite. Seine Augen wanderten zu dem Toten mit dem halb abgetrennten Kopf. »Ich konnte doch nicht mit ansehen, wie du ihn umbringst.«
»Ich hätte ihm höchstens irgendetwas abgeschnitten. Ich bin kein Mörder, du Dummkopf!«
»Entweder sind im Krieg alle Mörder oder es ist keiner.«
»Aber ich wollte dich nicht töten!«, jammerte David.
»Meinst du, ich dich? Wie heißt du?«
David atmete schwer. Er fühlte, wie seine Lebenskraft aus ihm hinauslief.
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