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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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seiner Brust, wo er das Geschenk dieses feinsinnigen Mannes trug, Wilfreds kraftvolles Gedicht über die Leiden des Krieges.
     
    Kein Erbarmen, kein Gebet, kein Geläut
    Als Lied der Trauer nur gellender Gesang
    der irren Chöre heulender Granaten Ruf
    aus letzter, düsterer Ferne.
     
    Das Herz unter diesen auf Papier gebannten Worten verkrampfte sich. Tränen schossen in Davids Augen. Als wenn Wilfred gewusst hätte, dass er hier das eigene Totengeläut beschrieb! Es war so ungerecht! Aber konnte es überhaupt so etwas wie einen gerechten Krieg geben?
    Ein donnernder Granateneinschlag ganz in der Nähe riss David aus dem Sumpf seines Schmerzes. Schluchzend stolperte er weiter. Nach hundert oder mehr Schritten blieb er noch einmal stehen und wandte sich um. Mit der Hand über dem Herzen murmelte er: »Wenn ich jemals hier herauskomme, Wilfred, dann sollen deine Worte nicht ungehört bleiben. Das verspreche ich dir.«
    Als hätte Ludendorff das gehört und persönlich missbilligt, schickte er seine Mannen schon am folgenden Tag in die Operation »St. Georg II.«. Der Erfolg schien die Deutschen zu beflügeln und so eroberten sie den Kemmelberg, einen jener langweiligen Buckel, wie sie die Militärs gerne mit dem Terminus »strategisch wichtige Höhe« umschreiben. Nachdem die Stadt Armentieres gefallen war, flackerte in Ludendorffs Hirn sogar die Vision eines kriegsentscheidenden Durchbruchs auf.
    Nach einer zehn Meilen weiten Treibjagd fand sich David unfreiwillig in einer Gegend wieder, die ihm nicht unbekannt war. Dicht vor dem Örtchen Hazebrouck stemmten sich die Briten gegen den deutschen Vormarsch an und weil nun endlich auch die französische Verstärkung anrückte, wendete sich das Blatt erneut.
    Lange hatte es nicht mehr ein solches Hin und Her gegeben. Hektisch versuchten die Militärs die Zivilisten aus der Gegend zu evakuieren, aber das gelang nur teilweise. In dem Durcheinander war David von seiner Einheit getrennt worden. Ein Verletzter, den er unbedingt noch verbinden musste, hatte ihn aufgehalten. Nun gab er sich alle Mühe die Kameraden wieder zu finden. Ein einzelner Soldat konnte leicht für einen Deserteur gehalten werden, ein nicht nur ehrenrühriger, sondern auch ziemlich gefährlicher Zustand – auf Fahnenflucht stand immer noch die Todesstrafe.
    Die Straße unter Davids Stiefeln führte nach Westen. Hinter ihm donnerten die schweren Kanonen der Deutschen. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Momentan mochten hier Freund und Feind durcheinander laufen, ohne sich überhaupt zu bemerken. Mit einem Mal entdeckte David den Bauernhof.
    Es war dasselbe Gehöft, bei dem er vor nun fast einem Jahr gerastet hatte. Er konnte später nie sagen, was seine Schritte von der Straße gelenkt hatte. War es eine ihm noch unbekannte Variante der Sekundenprophetie? Oder doch eher jene besondere Art von Verbundenheit, die er einst auch zu seinen Eltern und zu Nick besessen hatte? Jedenfalls lief er direkt auf das Tor zu, das in den rechteckigen Innenhof des Bauerngutes führte. Als er den Durchgang fast erreicht hatte, hörte er ein verzweifeltes Schreien.
    Der Laut ging ihm durch Mark und Bein. Er hatte nun schon so viele Geräusche des Schreckens kennen gelernt, aber dieses erschütterte ihn vielleicht mehr als jedes andere zuvor. Die Stimme war hoch, kreischend. Sie schien ein Entsetzen auszudrücken, das noch jenseits der Todesangst lag. David zog instinktiv sein Langschwert aus der Scheide und rannte in den Hof.
    Die Szene vor seinen Augen sah für ihn, der schon so viel erlebt hatte, auf den ersten Blick gar nicht so schrecklich aus. Er entdeckte drei Menschen: zwei deutsche Soldaten, einer davon ein Offizier, und ein schwarzhaariges Mädchen. Er erkannte es sogleich wieder. Es war Rebekka.
    Wie zähes Harz floss die Erkenntnis dessen, was da geschah, in Davids Bewusstsein. Der Große Krieg war grausam, aber gegenüber Zivilisten nur selten unmenschlich gewesen. Was sich hier jedoch anbahnte, war eines jener unsäglichen Verbrechen, die Soldaten den Frauen in allen Kriegen antaten. Schockiert stellte sich David diesem abstoßenden Gedanken: Der deutsche Offizier wollte sich an dem Mädchen vergehen.
    Endlich hatte David die Situation voll erfasst: Das Mädchen lag mit dem Rücken am Boden und schrie. Der Leutnant kniete über ihr, versuchte unwillig mit der einen Hand seinen störenden Degen wegzustoßen und nestelte gleichzeitig mit der anderen an seiner Hose herum. Daneben stand der Gefreite, hielt die

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