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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schon ganz klar vor sich. David hatte seinen Freund schon lange nicht mehr so gelöst erlebt und ließ sich gerne von dessen Tagträumen anstecken. Für einen Augenblick vergaß er sogar das morgendliche Erlebnis sowie die viel zu kleine Flamme seines Lebensmuts und kündigte an, er werde Englisch und Geschichte studieren und anschließend ein großer Journalist werden.
    Nach einer gewissen Zeit wurden die beiden Freunde in ihren Luftschlössern stiller und schließlich, ohne es recht zu merken, dämmerten sie in einen Halbschlaf hinüber.
    Irgendwann begann David ein regelmäßiges Schippen wahrzunehmen. Schnipp! Und aus. Schnipp! Und aus. Schnipp…
    Das Geräusch von Nicks Münze lullte ihn noch tiefer in den Schlaf. Die Sonne wärmte ihn. Es war so schön! So friedlich! Mit dem Rücken an der Grabenwand hockend entglitt er nun völlig der Wirklichkeit. Obwohl er sonst nichts träumte, schien ihn das Geräusch der Münze auch noch im Schlaf zu begleiten. David trieb einfach durch die Dunkelheit, wie auf einem ruhigen See tief unter der Erde. Schnipp! Und aus. Schnipp! Und aus. Schnipp.
    Die Stille riss ihn mit brutaler Gewalt aus dem Schlummer. Er öffnete die Augen. Sah ein schreckliches Bild. Erst dann wurde ihm klar, dass diese furchtbare Vision nicht Wirklichkeit war. Noch nicht!
    »Neeiiinnn!!!«
    Davids Schrei gellte durch den Graben, lang gezogen und unwahrscheinlich laut. Alle Kameraden, die in der Nähe standen, warfen ihre Köpfe herum. Sie sahen, wie David sich hochkämpfte, noch zu verhindern suchte, was ihm seine Sekundenprophetie schon angekündigt hatte. Doch sein Schlaf war ein wenig zu lang, ein wenig zu tief gewesen. Deshalb konnte nicht einmal mehr die Gabe der Verzögerung verhindern, was gerade geschah.
    Nick hatte, wohl zum hundertsten Mal, das Sixpencestück in die Luft geschnippt. Aber diesmal flog es nicht gerade nach oben und fiel nicht lotrecht nach unten. Eine kleine Unaufmerksamkeit beim Ausbalancieren des Geldstückes, vielleicht auch ein winziger Windstoß, hatte die Münze zum Grabenrand hingetrieben. Nick streckte sich, den Kopf im Nacken, um das flüchtige Ding noch einzuholen. Als sein Scheitel das Niveau des Bodens erreichte, musste ihn der Scharfschütze bereits entdeckt haben, als der Kopf sichtbar wurde, drückte er ab.
    Die Kugel durchbohrte Nicks linkes Auge und trat an der Oberseite des Schädels wieder aus. Weil der Helmriemen lässig vor dem Kinn gebaumelt hatte, flog der Kopfschutz mit einem großen Stück der Schädeldecke nach hinten weg. Keuchend sackte Nick auf dem Grabenboden zusammen. Erst jetzt war David bei ihm, fing ihn auf und blickte verzweifelt in das blutige Gesicht.
    Nick lebte noch. Es war unglaublich! David zog einen Lappen aus der Brusttasche und drückte ihn auf den Blutstrahl, der aus dem Gehirn des Freundes spritzte.
    »David…« Nicks Stimme war nur noch ein heiseres Röcheln.
    David schossen Tränen in die Augen. Seine Unterlippe bebte. Nur mühsam brachte er ein Wort hervor: »Nick!«
    »Hat mich schlimm erwischt, oder?«
    »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mit deiner dämlichen Münze aufpassen?«
    »Entschuldige.«
    Inzwischen wurden die beiden von sechs oder sieben Kameraden umringt, die betroffen auf die herzzerreißende Szene blickten. David kniete am Boden. Nicks Oberkörper lag auf seinem Schoß, der blutige Kopf an seine Brust gelehnt. Alle wussten, dass sie hier auf zwei Freunde herabsahen.
    Davids Körper zitterte unter dem Ansturm seiner Gefühle. Er stieß ein wimmerndes Klagen aus.
    »Weine nicht, David.« Nicks Stimme war kaum noch zu hören.
    David wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Du bist noch viele Tränen wert, mein Freund.«
    »Heb sie dir für später auf. Du musst mir noch einen Gefallen tun, mir noch ein Versprechen geben, bevor’s mit mir zu Ende geht.«
    »Ich würde alles für dich tun, wenn du nur…« David schluchzte und zwang ein erneutes Zittern nieder. »Was soll ich für dich tun?«
    Nick drehte langsam, wie unter großen Mühen, den Arm herum und öffnete die rechte Hand. Darin lag das Sixpencestück.
    »Nimm die Münze und finde einen Menschen, der für dich die Zukunft verkörpert – eine bessere als die, die wir beide hatten – und gib ihm das.«
    David zögerte.
    »Hier…« Nick stieß ein röchelndes Husten aus. »Nimm’s und versprich es mir!«
    Schweren Herzens nickte David und weil er befürchten musste, dass sein Freund diese Geste selbst mit dem verbliebenen Auge nicht mehr

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