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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sehen konnte, sagte er: »Ich verspreche es.«
    Langsam näherte sich seine Hand dem Sixpencestück in derjenigen Nicks. Als seine Finger die Münze umschlossen, spürte David, wie das Leben seinen Freund verließ.
    Nicolas Jeremiah Seymour war gestorben.
    Der Tod eines geliebten Menschen gehört zu den niederschmetterndsten Erfahrungen, die man durchleben kann. In diesem Moment klingen alle Beteuerungen, das Sterben gehöre nun einmal zum Leben, unglaubwürdig und hohl. Davids Niedergeschlagenheit war beinahe grenzenlos. Nicks Fortgang traf ihn fast ebenso heftig wie der unvorhergesehene Tod seiner Eltern. Wieder kamen ihm die Worte in den Sinn, die er vor langer Zeit – wie lang war das eigentlich her? – gelesen hatte: Auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt. Nein, der Tod ist nicht normal. Das blutige Gesicht seines Freundes mit dem fehlenden Auge blickte ihn noch immer an. Was sollte daran normal sein!?
    Welch ein Hohn es doch war, wenn die Feldherren an sauberen Tischen über sauberen Landkarten brüteten, um saubere Schlachtpläne zu entwerfen! Sie hantierten mit dem Tod ihrer Männer, als wären diese nur Jetons auf einem Spieltisch. Aber jeder Mensch war von einer Mutter unter Schmerzen geboren und aufgezogen worden. Er hatte Fieber und jemand wachte an seinem Bett, Hunger und jemand steckte ihm etwas in den Mund, das Bedürfnis nach Liebe und jemand streichelte ihn. Mit unendlich viel Mühe waren diese Menschen zu dem gemacht worden, was man einen Erwachsenen nennt. Ob die großen Strategen eigentlich jemals darüber nachgedacht hatten? Warum wurde der Tod von Menschen nur so unproblematisch, sobald man ihn in Hundert- und Tausendschaften zählte?
    In den nächsten Wochen tappte David völlig unbeteiligt durch das Leben. Selten hatte er sich so sehr gewünscht, doch endlich von einer Kugel getroffen oder von einer Granate zerfetzt zu werden. Aber dann kam ihm immer wieder das Versprechen in den Sinn, das Nick ihm abgetrotzt hatte, und er kämpfte sich weiter. Hatte sein Freund ihn vielleicht doch durchschaut gehabt? Wusste Nick von Davids fast erloschenem Lebensmut? Jedenfalls hätte David jetzt schon wortbrüchig werden müssen, um sich noch töten zu lassen. Dergleichen war für ihn undenkbar. Jetzt musste er weiterleben. Nick hatte ihn hereingelegt.
    Am 12. Oktober unternahm Feldmarschall Haig einen weiteren nutzlosen Angriff. Er bewies eine heldenhafte Ausdauer im Austeilen von Angriffsbefehlen und schickte seine Männer in den letzten zehn Oktobertagen noch drei weitere Male hinaus. Diesmal errang man wenigstens geringe Erfolge. Als seine Truppen am 6. November die Ruinen von Passchendaele einnahmen, war er endlich zufrieden. Vom Ausgangspunkt aus gesehen hatte man immerhin fünf Meilen gewonnen. Nun gut, Haig hatte versprochen, die Operation würde ohne »schwere Verluste« abzuwickeln sein, aber die dreihundertfünfundzwanzigtausend Mann, die im Verlaufe des Feldzuges gefallen waren, hatten ihr Leben schließlich für eine patriotische Pflicht geopfert.
    Wäre Haig dem Schützen Milton in den Wochen nach Nicks Tod über den Weg gelaufen, der bescheidene junge Mann hätte den Feldmarschall wohl in kleine Stücke zerhackt. David entglitt für eine gewisse Zeit jeder Bezug zur Realität. Hätten die Alliierten doch nur die »Friedensresolution« des Deutschen Reichstags vom 19. Juli akzeptiert! Dann würde Nick jetzt noch leben. War es denn wirklich so wichtig, ob und welche Zugeständnisse die eine oder die andere Seite machte, wenn man zunächst dieses sinnlose Töten beenden konnte? Sollten die Politiker sich doch anschließend jahrelang hinter verschlossenen Türen um die Herausgabe der annektierten Gebiete streiten. In dieser Zeit könnten die einfachen Menschen wenigstens leben, anstatt hier, auf fremder Erde, zu verbluten.
    Aber derart simple Argumente waren zu sperrig, um in die filigranen Gehirnwindungen gebildeter Leute zu passen. Also wurde weitergekämpft.
    In seiner Verzweiflung suchte David das Zelt eines Feldgeistlichen auf. Normalerweise waren diese immer sehr beschäftigt, weil sie die Waffen des Rekrutennachschubs segnen mussten, aber der schmächtige Hirte fand trotzdem etwas Zeit für das verirrte Schaf.
    »Ich möchte nicht mehr kämpfen«, erläuterte David müde. Alles, was sein umnebelter Geist von dem Geistlichen registrierte, war dessen haariges Gesicht. Um den Gottesmann nicht zu deprimieren, ließ er seine bisherige Enthaltsamkeit in Bezug auf geheiligte Karabiner

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