Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
versprechende neue Kampftaktik war.
Durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika zeichnete sich allmählich eine entscheidende Wende ab. Nun kamen auch die ersten Schiffsladungen von Soldaten über den Atlantik herüber. Zugegeben, etwas zögerlich, denn diese mussten im Land der unbegrenzten Möglichkeit erst einmal zusammengestellt und ausgebildet werden. Als die Deutschen im März 1918 ihre letzte große Offensive im Westen begannen, waren gerade mal fünfundachtzigtausend amerikanische Soldaten in Europa. Weil sie nicht einmal eigene Stahlhelme besaßen, liehen sie sich die »Schüsseln« der Tommys aus. Aber das schmälerte ihren Siegeswillen in keiner Weise. Vorsorglich hatten die Zeitungen in den USA ihren Befehlshaber, General John J. Pershing, schon in den Rang eines neuzeitlichen Kreuzfahrers erhoben. In heiliger Mission ließ es sich immer besser kämpfen, selbst wenn man nur eine kleine Schar von Streitern war.
Stärkere Unterstützung für die Alliierten kam von der U. S. Navy, der zweitstärksten Marine der Welt. Bald zerstörten ihre U-Boot-Jäger den deutschen Traum eines großen Sieges durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg.
Während der ersten neun Monate des Jahres 1918 avancierte Woodrow Wilson zum Sprachrohr der Alliierten. Er hatte eine Vorliebe für Zahlen. Seine Erklärungen, mit denen er die Welt beglückte, klangen alle wie Gerichte auf einer chinesischen Speisekarte: »Die vierzehn Punkte«, »Vier Prinzipien«, »Vier Enden« und »Fünf Besonderheiten«.
Dieser Zauber des großen Medizinmannes Wilson wirkte auf etliche der für Mystik jeder Art schon immer sehr aufgeschlossenen karibischen Inselstaaten ansteckend. Im Verein mit einigen südamerikanischen Ländern warfen jetzt auch sie Kaiser Wilhelm II. den Fehdehandschuh hin. Mehr Länder als je zuvor wollten nun am Großen Krieg einen Anteil haben.
Am 9. Februar kam, was kommen musste: Lenin schloss einen Separatfrieden mit Deutschland. Nun zog das Kaiserreich im großen Stil Truppen aus dem Osten ab, um sie nach Westen zu verlegen. Weitere Verbände wurden aus Italien und Galizien herbeigeschafft. Bald war Ludendorffs Armee im Westen fast sechshunderttausend Mann stark. Endlich sollte eine Entscheidung her, bevor die Amerikaner so richtig zum Zuge kommen konnten.
Im März kam »Michael«. Was sich da hinter dem Namen des Erzengels versteckte, war das Grauen der zweiten Schlacht an der Somme. Die Deutschen errangen die größten Gebietsgewinne seit der ersten Schlacht an der Marne im September 1914. Davon ermutigt, warf der deutsche Generalquartiermeister nun seine Männer gegen die britischen Linien bei Ypern. Unglücklicherweise standen David und seine Kameraden den Deutschen direkt im Weg.
Die Operation firmierte unter dem Codenamen »St. Georg I.«. Am 9. April trieben die Grauröcke David und seine Kameraden mit massiver Artillerieunterstützung nach Westen. Wenn möglich, wollten sie die Verteidiger gleich in den Ärmelkanal schubsen. Eine Zeit lang sah es wirklich schlecht für die Briten aus und noch schlechter für David.
Der Rückzug seines Verbands hatte in etwa die Übersichtlichkeit einer in Panik geratenen Rinderherde. Während die Deutschen mit geballter Kraft gegen sie anstürmten, versuchte jeder die Sicherheit der zweiten Verteidigungslinie zu erreichen. Die Verlierer dieses Wettlaufes blieben einfach liegen und wurden manchmal noch von den eigenen Kameraden in den Staub getreten.
David tat, was er konnte, um wenigstens einige zu retten. Hier und da verband er einen Verwundeten. Dann floh er weiter, wohl wissend, dass diese Männer in Kriegsgefangenschaft geraten würden. Aber was sollte er tun? Selbst wenn er einen hätte mitschleppen können, würden die vielen anderen verbluten, die er links und rechts des Weges fand. So hatten sie wenigstens eine Chance auf ein Überleben, eine Zukunft. Während er mit diesen Argumenten noch seine inneren Zweifel bekämpfte, machte er eine furchtbare Entdeckung.
Der junge Soldat lag auf dem Rücken, links neben der Straße. In seiner Brust klaffte ein Loch, der aufgerissene Rand war dunkel, noch feucht vom Blut. Es musste den Ärmsten im Rücken getroffen haben, direkt ins Herz. Aber nicht das war das Schreckliche an Davids Entdeckung, es war das Gesicht des Gefallenen. David kannte es. Er hatte diese Augen, die jetzt so starr und leblos zum Himmel hinaufsahen, einmal lachen gesehen. Der Tote war Wilfred Owen.
Davids Hand schlich sich zu der Stelle an
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