Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Diese ganze Situation war einfach zu absurd! Da unterhielten sich hier zwei sterbende Kriegsfeinde, als seien sie Besucher eines diplomatischen Empfangs. Wie aus dem Munde eines Fremden, hörte er sich sagen: »Mein Name ist David.«
»Angenehm. Und ich bin Johannes Nogielsky. Ich…« Ein Hustenanfall unterbrach den Gefreiten. Dabei rann ihm Blut aus dem Mund. David wusste, was das bedeutete. Johannes’ Lunge war verletzt. Als es diesem wieder etwas besser ging, fragte er ungewöhnlich ruhig: »Würdest du mir einen Gefallen tun, David?«
Oh nein! Nicht schon wieder ein Versprechen für einen Sterbenden! David kämpfte seine Schmerzen nieder und rang sich selbst ein Lächeln ab. »Was meinst du?«
Der junge Deutsche fingerte an seiner grauen Uniformjacke herum.
»Was ist da?«, fragte David.
»Ich habe hier einen Brief für meine Mutter. Kannst du mir bitte helfen?«
Warum immer ich? »Mir scheint, da steckt mein Schwert im Wege.«
»Dann zieh’s heraus.«
Dann verblutest du nur noch schneller, du Tölpel! »Ich will dir nicht unnötig wehtun, Johannes…«
»Bevor ich sterbe, meinst du? Nun mach schon. Der Brief steckt in der Innentasche der Uniformjacke.«
Also gut, das mit dem Tölpel nehme ich zurück. David musste ein Zittern über sich ergehen lassen, bevor er sagen konnte: »Beiß die Zähne zusammen.«
Mit einem Ruck zog er die rasiermesserscharfe Klinge des wakizashi aus der Wunde, drückte seine Rechte auf den sprudelnden Quell und suchte mit der Linken nach dem Brief. Während er das zusammengefaltete Papier zutage förderte, wurde ihm schwarz vor Augen. Mit aller Macht kämpfte er gegen die Besinnungslosigkeit an. Er musste wenigstens noch länger leben als dieser Mann. Sein eigenhändig liquidierter Feind. Sein Kamerad.
»Versprich mir, dass du ihn meiner Mutter schickst«, hustete Johannes. Seinem Mund entwich ein weiterer Schwall hellroten Blutes.
Wie könnte ich das? Ich werde ja selbst gleich sterben! »Ich verspreche, mein Bestes zu tun.«
»Gut. Ich glaube, das ist nur fair. Danke, David.«
Davids Kopf sank auf die Brust. Er hätte am liebsten geschrien. Als er ihn wieder hob, waren Tränen in seinen Augen. Den eigenen Schmerz im Rücken hatte er fast vergessen. Das Flämmchen seines Lebens würde still verlöschen. Aber warum hatten ihn die Umstände vor diese Alternative stellen müssen? Das Mädchen oder dieser junge Soldat – warum hatte er nicht beide retten können?
»Du darfst nicht mit deinem Schicksal hadern«, sagte Johannes und spuckte neues Blut.
»Kannst du mir verzeihen?«, bat David.
»Dich trifft keine Schuld.«
»Natürlich tut sie das! Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.«
»Immerhin habe ich mein Bajonett ja zuerst…« Johannes’ Stimme versiegte, sein Kopf sank zur Seite und er verschied.
Ein heftiges Weinen schüttelte Davids geschwächten Körper. Da kniete er nun über diesem Soldaten, blickte auf das rote Rinnsal im Mundwinkel dieses armen Menschen und alles, was ihm im Moment seines eigenen Todes blieb, war das Bewusstsein ein Mörder zu sein.
Kraftlos sackte er neben seinem Kameraden zu Boden und sah mit einem Mal den Himmel über sich. Das musste auch Wilfred Owens letzter Blick gewesen sein. Nicht einmal das Schlechteste, dachte David. Ob Gott ihm verzeihen würde? Ob die vielen Leben, die er gerettet hatte, ein gewisses Gegengewicht waren gegen die zwei, die er soeben genommen hatte?
Mit einem Mal wusste David, Gott würde in jedem Fall gerecht über ihn urteilen. Lächelnd blickte er zu den vorüberziehenden Wolken auf. Unter der Weite des Himmels wurde ihm seine eigene Winzigkeit bewusst. Was war schon der Mensch, dass er sich so wichtig nahm?
Plötzlich tauchte das Gesicht eines Engels über ihm auf, traurig, blass und wunderschön. David fühlte, wie ihn ein großer Frieden erfüllte. Noch einmal lächelte er dem Engelsgesicht zu. Dann schloss er die Augen und Finsternis umfing seinen Geist.
Drittes Buch
Jahre der Leidenschaft
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Leo Tolstoi
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