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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nichts Eiligeres zu tun, als die Rote Armee aus der Taufe zu heben. Lenins Gefolgsleuten war jeder suspekt, der das Wort Bolschewismus nicht buchstabieren konnte. Und wer so gebildet war, es dennoch zu können, war umso verdächtiger. Dazu zählten vor allem die »Weißen«, welche die Gegenregierung der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre in Samara unterstützten. Die »roten« und die »weißen« Garden schenkten sich nichts – schon gar nicht das Leben.
    Woodrow Wilson und seine Verbündeten gingen mit den Achsenmächten schonender um. Ein wenig jedenfalls. Bis zum 11. November ließen sie sich von den drei Mittelmächten Türkei, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich ihre Waffenstillstandsbedingungen unterzeichnen. Manche – nicht nur im Feindeslager – warfen ihnen dabei eine gefährliche Maßlosigkeit vor. Die so lautstark geforderte Wiedergutmachung, die in diesen Tagen den Namen »Reparation« trug, hatte nichts mit der Heilung von Gefühlen trauernder Witwen und Waisen zu tun, eher schon mit Geld.
    Als der französische Marschall Ferdinand Foch der deutschen Waffenstillstandsdelegation unter Matthias Erzberger seine aus Kanonen, Eisenbahnen und dem kompletten linksrheinischen Staatsgebiet bestehende Wunschliste in die Feder diktierte, lieferte er damit zugleich die Munition für neue Kriegshetzer, die bald schon ihre Stimme erheben würden. Diese ignorierten den zuletzt völlig demoralisierten Zustand des Heeres und die Meuterei der deutschen Hochseeflotte. Sie fühlten sich zutiefst gedemütigt und verbreiteten das Gerücht von der »im Felde unbesiegten« Armee, der mit Erzberger ein Zivilist in den Rücken gefallen war. Das von diesem deutschen Zentrumsabgeordneten in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiegne unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen markierte zugleich auch die Geburtsstunde der »Dolchstoßlegende«.
    Der Große Krieg hatte das Gesicht der Welt verändert. Fast neun Millionen Soldaten hatten ihn nicht überlebt. Und weil ein Friede anders nicht zu erreichen war, dankten auch viele gekrönte Häupter ab. Bei Zar Nikolaus II. hatten die Bolschewiki nachgeholfen und sicherheitshalber gleich die ganze Familie ausgelöscht. Wilhelm II. zog sich – mehr oder weniger – freiwillig ins Exil nach Schloss Doorn in den Niederlanden zurück. Kaiser Karl I. von Österreich-Ungarn zierte sich bis zum letzten Moment. Erst zwei Tage später – während Matthias Erzberger im Eisenbahnwaggon bei Compiegne noch Marschall Fochs Kapitulationsbedingungen studierte – dankte auch er ab. Einzig der »kranke Mann am Bosporus«, jetzt in Gestalt des Sultans Mehmed VI. hielt noch vier Jahre länger durch. Wie heißt es doch so schön: Totgesagte leben länger.
    »Nie wieder Krieg!« Dieser Ruf stand in tausenden von Zeitungen, erscholl aus hunderttausenden von Kehlen. Die Menschen hatten das Töten gründlich satt. Und auch David konnte erst jetzt über seinen Büchern so richtig aufatmen, um die nächste große Hürde seines Lebens zu nehmen.
    Das School Certificate absolvierte er mit Auszeichnung. David Newton galt als eines der viel versprechendsten Talente von Eton. Zwei Jahre Schlachtfeld und Schulpause und dieser Schüler überflügelte bis auf einen alle anderen seines Jahrgangs. Wie er das schaffte?
    David besaß einen eisernen Willen. Er hatte jetzt eine Aufgabe. Allerdings tat er sich anfangs ziemlich schwer, überhaupt irgendetwas über den Kreis der Dämmerung in Erfahrung zu bringen. Offen gestanden war das handgeschriebene Vermächtnis seines Vaters immer noch das einzige Beweisstück, das von der Existenz dieses Geheimbundes kündete.
    Tagelang hatte er in der gewiss nicht unbedeutenden Schulbibliothek von Eton über Geschichtsbüchern gebrütet, Aufsätze über die Tempelritter in sich hineingefressen, jeden zugänglichen Bericht über die Freimaurer und ihre Geheimlogen verschlungen, aber er kam einfach nicht weiter.
    Zum Glück gab es da noch Yoshiharu, seinen ältesten Freund. Yoshi – korrekt wie Japaner eben sind – hatte sich altersbedingt nicht für den Tenno Taisho opfern dürfen. Er musste während der Kriegszeit die Schulbank drücken. Dafür konnte er David nun Briefe schreiben und ihm alles mitteilen, was der Familie und seinem Land in den letzten vier Jahren widerfahren war. Im Frühjahr 1919 traf eine für David bestürzende Nachricht aus Japan ein: Yoshiharus Eltern waren an der »spanischen Grippe« gestorben. Gegen diese heimtückische Influenza war kein Kraut

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