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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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noch eine Weile über Hirohitos »größte Vorzüge«, die der Schreiber in der frappierenden Ähnlichkeit des Kronprinzen mit seinem Großvater Mutsuhito ausgemacht zu haben glaubte. Selbst die »Würdenträger bei Hof« seien davon »zu Tränen gerührt«. Was David viel mehr in Erregung versetzte, war jedoch ein ganz bestimmtes Detail von Hirohitos Besuchsprogramm: Der japanische Thronerbe würde auch Oxford besuchen.
    Hörbar nach Luft ringend ließ sich David in seinen Stuhl zurückfallen. Er wollte erst gar nicht glauben, was er da gelesen hatte. Verwirrt blickte er aus dem Fenster seiner Kammer, die er noch immer mit Charly teilte, auf den ummauerten Garten hinab. Sein alter Freund Hito, der Junge mit den traurigen Augen! Wie hatte er es nur geschafft, sich gegen seine Hofbeamten durchzusetzen, ohne ihnen nicht wenigstens seinen rituellen Selbstmord anzubieten?
    Vielleicht, überlegte sich David, war er ja sogar zum se puku bereit gewesen. Vögel in goldenen Käfigen haben oft nur eine geringe Lebenserwartung. Doch aus gewöhnlich gut unterrichteten Quellen wusste er auch, dass es mit der Gesundheit von Hitos schwachsinnigem Vater nicht zum Besten bestellt war. Vielleicht hatte man deshalb den Kronprinzen die Anker lichten lassen.
    David lächelte in stiller Zufriedenheit vor sich hin, in seinem Kopf ein seliger Gedanke: Dann hast du also doch auf den Rat deines alten Freundes gehört, kleiner Hito. Das gefällt mir gut!
    In den kommenden Wochen fieberte David dem großen Ereignis ungeduldig entgegen. Er verfolgte jeden von Hitos Schritten. Als die Katori , das Zwölftausend-Tonnen-Schlachtschiff des Kronprinzen, in Kairo anlegte, überschlugen sich die Zeitungen mit ihren Berichten über diesen zivilisierten, gut aussehenden jungen Mann. Hirohito habe sich köstlich amüsiert, hieß es in einem Blatt, während ein Sandsturm die Frisuren der Damen im Garten der britischen Botschaft von Kairo verwüstete.
    Das Besuchsprogramm führte weiter über Malta, Gibraltar bis in den Golf von Spithead, wo Hirohito eine Parade der Royal Navy abnahm. Überhaupt zollte man dem hohen Gast überall großen Respekt. Man führte ihn zu »Othello« in die Oper, ließ ihn Pferderennen besuchen und zeigte ihm sämtliche Variationen der gehobenen westlichen Lebensart.
    Über Portsmouth, wo ihn der Prince of Wales in Empfang nahm, näherte sich Hirohito Oxford immer mehr. Als David beim Master des Colleges vorsichtig anfragte, ob denn irgendeine Möglichkeit bestände den japanischen Kronprinzen zu sprechen, erlitt dieser einen Erstickungsanfall, weil er sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Daraufhin nahm David Kontakt zu Sir William und Sir Northcliffe auf und – siehe da! – die Privataudienz klappte. Fünfzehn Minuten wurden David zugestanden. Wie sollte er es nur schaffen, acht Jahre durch dieses Nadelöhr zu zwängen?
    Wäre es nach David gegangen, dann hätte Hirohito sein weiteres Besuchsprogramm getrost zusammenstreichen oder wenigstens ihm zuliebe umstellen können. Aber da der Kronprinz noch nichts von seiner Überraschung wusste, ließ er sich Zeit. Zunächst logierte er noch im Buckingham Palace, besuchte den Tower, das Britische Museum und die Bank von England. Er plauderte mit Premierminister Lloyd George und ließ sich von Lord und Lady Curzon einladen, die eigens für ihn die Pawlowa aus Paris herbeischafften, damit sie für den hohen Gast den »Sterbenden Schwan« tanzte.
    Dann endlich war es so weit. Die edlen Karossen von Hirohito und seinen – vornehmlich aristokratischen – Fremdenführern rollten über die Londoner Stadtgrenze nach Nordwesten, stießen bis zum Oberlauf der Themse vor und kreuzten schließlich im Wald der gotischen Türme von Oxford auf.
    Vor der eigenen Hochzeit konnte man nicht aufgeregter sein. Dachte David zumindest. Wie ein Trauerzug aus Weinbergschnecken wälzte sich die japanisch-britische Delegation durch das Stadtgebiet, in dem die verschiedenen Colleges von Oxford eingebettet waren. Im vorderen Haupthof des bald sechshundert Jahre alten University College steckte Graf Yoshinori dem Kronprinzen endlich einen Umschlag aus Büttenpapier zu, den er selbst zuvor von einem Mitglied der englischen Begleitmannschaft erhalten hatte. Hirohito öffnete das Kuvert, zog eine Karte heraus und las die Hiragana- Ze ichen, die ein ganz offensichtlich miserabler Kalligraf auf das Papier gepinselt hatte:
     
    Schön, auf den Rat eines Freundes zu hören. Schön , sich auch nicht am Spaße zu

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