Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
stören. Schön, eine Reise nach England zu machen. Schön, in der Ferne mit Freunden zu lachen. Schön, sich auch nur an der Schönheit zu laben. Die güld’ner Ball und Schwert für uns haben.
Hirohito hob den Blick und sah den Überbringer der Nachricht mit unbewegter Miene an. Ohne das geringste Zittern in der Stimme sagte er: »Von wem stammt dieses Gedicht, Graf Yoshinori?«
»Es wurde mir bei unserer Ankunft von einem unserer Gastgeber zugesteckt. Er sagte, diese Nachricht sei von großer Wichtigkeit und Eure Hoheit würden es in allerhöchstem Maße missbilligen, wenn man sie Euch nicht noch hier, in Oxford, aushändigte. Der Verfasser dieser Verse, ein junger Engländer, wartet in der Bibliothek dieses Colleges auf Euch, Hoheit.«
Hirohitos Blick wanderte wahllos zu einem der umstehenden Gebäude, das seiner Ansicht nach eine Bibliothek sein konnte (jedoch in Wahrheit die Chapel Hall war). Dann sah er wieder in das Gesicht des Grafen. »Bitte bringen Sie mich umgehend zu diesem jungen Mann, Graf Yoshinori.«
Wenig später betrat Hirohito – auf seinen ausdrücklichen Wunsch allein – die Bibliothek des University College. Sein Gefolge hatte ihm fünfzehn Minuten für diese außerplanmäßige Unterbrechung des Besuchsprogrammes eingeräumt. Der Kronprinz schritt langsam an den quer stehenden Regalen entlang. Er konnte niemanden entdecken.
Mit einem Mal hörte er eine Stimme auf Japanisch sagen: »Haben Eure Hoheit Ihr kusanagi mitgebracht oder doch den goldenen Ball?« David trat hinter einer Wand aus Büchern hervor und grinste Hirohito so breit an, wie es in Japan nur einem Knaben unter zwölf erlaubt war.
Der Kronprinz blieb einen Moment lang starr vor Verwunderung, aber dann gestattete auch er sich ein befreites Lächeln.
»Was hast du mit deinen Haaren angestellt, David-kun?«
»Ich wasche sie mit Henna. Das gibt mir eine irische Note, findest du nicht?«
Die beiden fast gleichaltrigen jungen Männer traten aufeinander zu und schüttelten sich die Hände.
»Entschuldige, wenn ich nicht vor dir niederfalle«, sagte David lachend.
»Das macht überhaupt nichts«, erwiderte Hirohito gut gelaunt. »In London haben mich riesige Menschenmengen begrüßt und mir zugewinkt und mich angelacht, ohne dass die Polizei sie dafür eingesperrt hätte.«
»Tja, und da behaupten unsere Nachbarn immer, wir Engländer seien steif. Komm, setzen wir uns.«
Sie suchten sich einen Platz am Ende der verlassenen Tischreihe, die sich fast durch den ganzen lang gestreckten Saal zog. Die Universitätsleitung hatte für diesen Tag sämtliche Studenten aus der Bibliothek herausgefegt. Hirohito bewunderte kurz die beiden großen sitzenden Statuen vor dem kunstvollen Maßwerk des Fensters, dann wandte er sich wieder seinem alten Freund zu.
»Wie geht es dir?«, fragte David in aller Aufrichtigkeit.
»Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie hier in England. Ihr seid einfach ein bemerkenswertes Volk! Euer Kronprinz ist so… so locker. Er darf in Restaurants essen gehen und Sport treiben.«
»Ach was!«
»Ja, und stell dir vor: Er trägt Knickerbocker.«
»Die habe ich nie gemocht.«
»Sogar euer König behandelt mich wie seinen eigenen Sohn.«
»Sag bloß! Und wie äußert sich das?«
Ein Lächeln huschte über Hitos Gesicht. »Als wir im Buckingham Palace wohnten, ist einmal etwas ziemlich Überraschendes geschehen. Meine Stallmeister waren jedenfalls außerordentlich erschrocken, als Seine Majestät König George V. eines Morgens nur halb angezogen meine Suite betrat. Er trug Beinkleider mit Hosenträgern, ein offenes Hemd und Hausschuhe, ist einfach auf mich zugegangen und hat mir auf die Schulter geklopft.«
»Ein Skandal!«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Nur ein wenig.«
»Ich habe dich vermisst, David. Du warst immer so anders als die Kinder am Hof oder im Gakushuin. So offen.«
»Wenn Freunde einander nicht mit Offenheit begegnen können, wer dann? Hast du seit meiner Abreise aus Japan ein paar neue gefunden? Ich hörte, du bist verlobt!«
»Zweimal ja. Erstens ist Prinzessin Nagako ein sehr liebliches Mädchen. Leider habe ich noch nie ungestört mit ihr sprechen können. Du musst wissen, dass wir uns bisher nicht sehr oft treffen durften – ich könnte die Gelegenheiten an einer Hand abzählen. Aber ich glaube, sie ist auch ziemlich gescheit.«
»Das freut mich für dich. Und zweitens?«
Hito sah David fragend an. Dann erhellte sich seine Miene. »Ach so! Ja, ich habe einen
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