Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Freund gefunden. Er ist älter als ich.«
»Sind das nicht alle, die dich am Hof umlagern?«
»Bis auf meinen Bruder Chichibu schon.«
»Und wer ist dein neuer Freund?«
»Er heißt Dr. Hirotaro Hattori und ist mein Biologielehrer.«
David hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu einem seiner Lehrer unterhalten. Dementsprechend überrascht präsentierte sich nun sein Gesicht.
Hito lächelte schüchtern. »Ich habe eine Schwäche für Meeresbiologie, und das ist auch Dr. Hattoris Spezialgebiet. Ich konnte ein junges Perlentaucher-Ehepaar aus Toba kommen lassen. Sie bewohnen jetzt ein Haus am Strand von Sagami. Wenn ich meinen Eltern in Hayama wöchentlich die Aufwartung mache, kann ich mich jetzt mit Dr. Hirotaro Hattori treffen. Dann fahren wir zusammen mit den Perlentauchern in die Bucht hinaus und fischen vier oder fünf Stunden lang Meerespflanzen aus dem Wasser.«
»Hört sich aufregend an.«
»Mir bereitet es viel Freude.«
»Entschuldige, war nicht so gemeint. Ich freue mich für dich, dass du unter all den intriganten Höflingen wenigstens ein paar Menschen gefunden hast, für die dein Herz schlägt.«
»Und ich beneide dich dafür, dass du hier studieren darfst.«
David sah zu dem Bleiglasfenster hin, als könnte er damit ganz Oxford überblicken, und nickte. »In gewisser Hinsicht ist dieser Ort für mich wie die Abgeschiedenheit eines Klosters. Wenn ich keine Zeitung läse, wüsste ich nicht einmal, dass Großbritannien gerade in einer seiner größten Wirtschaftskrisen steckt.«
Hito nickte. »Ich habe darüber mit eurem Premierminister gesprochen.«
Für einen Moment verdüsterte sich Davids Miene und als er den Mund öffnete, klang er verbittert. »Als wenn der Große Krieg den Menschen nicht schon genug Leid zugefügt hätte! ›Nie wieder Krieg!‹, haben die Menschen geschrien, weil ihnen neun Millionen Tote genug des Elends schienen. Aber kaum war das Gemetzel zu Ende, da brach auch schon die ›spanische Grippe‹ aus und löschte weitere zwanzig Millionen Menschenleben aus (manche sagen, es seien sogar doppelt so viele gewesen). Und jetzt? Jetzt hat das Hungern immer noch kein Ende. Es heißt, inzwischen seien eine Million achthunderttausend Menschen arbeitslos. Dieser A. J. Cook hat die walisischen Bergarbeiter zu einem schier endlosen Streik aufgestachelt und dadurch liegt halb England brach. Weil es nicht genug Kohle gibt, ist teilweise sogar der Eisenbahnverkehr zusammengebrochen.«
Hito sah seinen erregten Freund bestürzt an. »So drastisch hat mir Lloyd George die Auswirkungen der Krise nicht beschrieben.«
»Wen wundert’s!«, schnaubte David. »Hast du schon einmal erlebt, dass die da oben…?« Er stockte und mit einem Mal musste er losprusten.
»Was ist?«, fragte Hito besorgt.
»Mir war für einen Augenblick ganz entfallen, dass du selbst einer von denen ›da oben‹ bist.«
»Manchmal wünschte ich, mehr Menschen würden das vergessen.«
David wurde wieder ernst. Nachdenklich blickte er in die nun wieder traurigen Augen seines Freundes. Er wollte gerade das Gespräch auf ein weniger verfängliches, gleichwohl für ihn sehr wichtiges Thema lenken, als es zaghaft, aber beständig an der Bibliothekstür klopfte.
»Das werden deine Aufpasser sein.«
»Hoheit, die Zeit ist schon weit fortgeschritten«, ertönte es auch prompt von der Tür her. Irgendwo dort musste eine Uhr viel zu schnell ticken, dachte David grollend.
»Ruhe, ich bin noch nicht fertig!«, rief Hirohito. Das Klopfen erstarb sogleich.
»Ich hätte dir gar nicht zugetraut so energisch aufzutreten«, sagte David ohne jeden Spott.
»Das muss die englische Luft sein. Bestimmt werde ich mich von meinen Beratern, Geheimsiegelbewahrern und wie sie alle heißen zu Hause wieder herumkommandieren lassen.«
»Bevor wir voneinander Abschied nehmen müssen, wollte ich dich noch etwas fragen, Hito.«
Der Kronprinz nickte.
»Erinnerst du dich noch an den Namen Mitsuru Toyama?«
Hito schüttelte den Kopf, aber nicht um die Frage zu verneinen. »Wie könnte ich das Haupt des Schwarzen Drachens vergessen haben? Er war Fürst Yamagatas eifrigster Unterstützer in der Kampagne gegen Prinzessin Nagako.«
»Deine Verlobte? Er hat doch wohl nicht etwa versucht sie zu vergiften oder ihr sonst irgendwelche Fußangeln gestellt?«
»Nein. In diesem Fall gingen der Choshu-Clan und ihr zwielichtiger Komplize Toyama viel hinterlistiger vor. Sie haben niederträchtige Gerüchte in die Presse gesetzt. Mal war Nagako
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