Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
blieb David fest, so schwer es ihm auch fiel.
»Du hast doch einmal behauptet, du würdest gerne ins Land deiner Väter zurückkehren«, sagte er dem Freund zum Abschied. »Mit dem Geld, das ich dir gebe, kannst du dort wie ein Maharadscha leben.«
»Ja, Sahib«, antwortete Balu betrübt. »Ich würde aber doch lieber bei dem Sahib bleiben.«
»Ich weiß, Balu. Aber wie würdest du sagen? ›Zu gefährlich, Sahib.‹ Du würdest mich nur unnötig in Gefahr bringen. Und außerdem könnte ich es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas zustieße.«
Schweren Herzens hatte sich Balu schließlich unter dem Gewicht der Argumente gebeugt. Er würde immer zur Stelle sein, wenn der Sahib ihn brauche, versicherte er noch einmal David nahm ihn in den Arm und drückte ihn, so fest er konnte.
Eine andere unangenehme Begleiterscheinung der ohnehin schon schmerzlichen Entwicklungen im August 1922 war der Wegfall von Davids geheimem »Briefkasten«. Der Kontakt zu Rebekka Rosenbaum war ebenso über Sir Williams Adresse gelaufen wie der zu Hirohito. Was den Suchauftrag nach der Familie von Johannes Nogielsky betraf, so beauftragte David jetzt den Nachfolger von Sir Rifkind mit den Ermittlungen. Solange diese im Gange waren, wartete der Brief des deutschen Gefreiten auch weiterhin in Vaters Schatulle auf seine endgültige Zustellung.
Den Briefwechsel mit Rebekka wollte David nicht auf diese unpersönliche Weise abwickeln. Außerdem fürchtete er, der Kreis der Dämmerung könnte auch die Rosenbaums aufsuchen. Nach dem Tod von Sir William und Baron Northcliffe hielt er diese Möglichkeit gar nicht für so abwegig. Deshalb schrieb er Rebekka einen Abschiedsbrief. Es hätten sich Änderungen von großer Tragweite ergeben. Der plötzliche Tod Sir Williams sei nur die Spitze eines Eisberges, den er noch gar nicht überblicken könne. Sie möge ihm verzeihen, aber es wäre besser für sie beide, wenn sie ihre Brieffreundschaft beendeten. Er wünsche ihr für ihr weiteres Leben alles Gute.
David fühlte sich zwei Wochen lang so elend, als hätte er seine eigene Schwester an einen Sklavenhändler verkauft.
Das neue Trimester kennzeichnete für David zugleich den Anfang zum Endspurt. Er hatte sein Vorhaben aufgegeben die Universitätslaufbahn mit einer Dissertation abzuschließen. Was, so fragte er sich ganz objektiv, brachte ihm ein Doktortitel wirklich? Nun gut, die Menschen schmolzen dahin, wenn sich einer nur den Anschein eines Akademikers gab. Das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis, jemanden oder etwas zu verehren, traf in letzter Zeit immer mehr auf ein Vakuum, das mit dem schwindenden Einfluss der Kirche zusammenhing. Zunehmend drangen in diesen Hohlraum die Wissenschaftler und ihre vermeintlich unfehlbaren, letzten Erkenntnisse ein. Sie waren die neuen Götter. Jemand musste nur sagen, etwas sei wissenschaftlich erwiesen, und schon bekam es den Nimbus des Unantastbaren.
David hatte im Großen Krieg erfahren, wie »segensreich« die wissenschaftlichen Errungenschaften für die Menschheit waren. Das Gute tun zu können, bedeutete noch lange nicht, es auch zu fördern. Nein, allein um der Eitelkeit willen wollte er sich nicht um einen gehobenen akademischen Grad bemühen. Sein Bakkalaureat hatte er gerade geschafft; wenn er die Universität als Magister verließ, sollte das genügen. Außerdem mochte er schon morgen gezwungen sein in eine neue Persönlichkeit zu schlüpfen. Was nützten ihm dann noch all die schönen Titel unter einem »fremden« Namen?
Anfang September sah sich David veranlasst ein Telegramm nach Tokyo zu kabeln. Der Grund war eine beunruhigende Zeitungsmeldung. Genau am Ersten des Monats hatte die japanische Hauptstadt wieder einmal »geblüht«. Diesmal war jedoch nicht der leichtsinnige Umgang mit Zündhölzern die Ursache für die unersättliche Feuersbrunst gewesen, sondern ein verheerendes Erdbeben. Nach einigen Tagen stand die grauenvolle Bilanz fest: Einhunderttausend Menschen hatten ihr Leben verloren. Viele waren einfach erstickt, als ihnen der Feuersturm den Sauerstoff entzog.
Yoshis Antwort kam zwei Tage nach Davids Telegramm. Er habe die Katastrophe unbeschadet überstanden. Auch dem Kronprinzen gehe es gut. David atmete erleichtert auf, schickte aber dennoch einen Brief über Dr. Hattori an Hirohito, in dem er seiner Sorge und seinem Mitgefühl Ausdruck verlieh.
Während noch die japanische Tragödie durch die Presse geisterte, traf sich David mit Harold Sidney Harmsworth Rothermere. Sir
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