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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Kreis der Dämmerung finden zu können. Hirohito hatte sich zwischenzeitlich bei ihm für den letzten Brief bedankt und bedauernd mitgeteilt noch immer nichts über Toyamas mögliche Verbindung zu dem Geheimzirkel sagen zu können. Es könne noch Jahre dauern, wiederholte er einmal mehr, bis man einen konkreten Hinweis auf die verschworene Bruderschaft finde. Da Irren bekanntlich menschlich ist, erscheint es nicht verwunderlich, wenn David dieses ferne Ziel bald schon bis nach Oxford entgegenkam.
    Das Ereignis trug sich an einem Montag im Frühling 1923 zu. David saß wieder einmal in der Isis Tavern. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Sein Lieblingslokal war nicht etwa eine Taverne im ägyptischen Stil, obgleich das ohne Frage im Trend der Zeit gelegen hätte, denn seit Howard Carter im letzten November das Grab des Tutanchamun entdeckt hatte, war überall ein wahres Ägyptenfieber ausgebrochen. Nein, bei der Isis Tavern handelte es sich um ein ganz normales urgemütliches Pub, und »Isis« stand nicht für die gleichnamige ägyptische Göttin, sondern für den Oberlauf der Themse, die hier in Oxford eben so und nicht anders genannt wurde. Dieses Verwirrspiel diente den Einheimischen dazu, Fremde auf bequeme und schnelle Weise zu entlarven.
    Wer gerne rudernde Menschen in wahrer Harmonie mit dem Wasser sehen wollte, fand sich hier ein. Ein derartiger Anblick wirkte entspannend auf David. Manchmal fand er ein besonderes Buch, das man atmen musste, anstatt es einfach nur zu lesen. Dann kam er hierher, bestellte sich etwas zu trinken, setzte sich ans Fenster und vergaß die Zeit. Charly hätte sich in diesem Wirtshaus tödlich gelangweilt, er liebte die überfüllten Pubs im Zentrum von Oxford, aber für David war die Isis Tavern – vor allem seit jenem verhängnisvollen August des vergangenen Jahres – ein Ort, an dem er sich zu Hause fühlte.
    Hier also saß er nun, den Blick auf die vorübergleitenden Ruderer gerichtet, im Schoß den Beowulf, ein altenglisches Heldenepos, als ihn jemand von der Seite ansprach.
    »Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?«
    David war nicht überrascht – seine Gabe hatte ihn vorgewarnt. Er drehte sich zu dem Mann um. »Natürlich. Setzen Sie sich ruhig. Ich erwarte niemanden.«
    Der Fremde nickte dankend, ließ etwas Grünes auf den Tisch fallen und nahm gegenüber dem Studenten Platz.
    Im Grunde genommen wäre David lieber mit sich, dem Buch und seinen Gedanken allein geblieben. Aber nun war da dieser Fremde, zu dicht, um ungestört in die eigenen tiefen Gedanken zurückzusinken, viel zu nah, um ihn einfach zu ignorieren. Neugierig spähte David zu dem Etwas hinüber, das vor dem Mann auf dem Tisch lag. Es war ein Stadtplan von Oxford, eine Ordnance Survey District Map im Maßstab ein Inch zu einer Meile, um genau zu sein. Auf dem Umschlag konnte man eine Flussbrücke vor einem der gotischen Türme Oxfords sehen.
    Keine Frage, der Mann musste von außerhalb kommen.
    David musterte ihn so unauffällig es ging. Für einen gewöhnlichen Studenten war der Fremde zu alt, für einen Professor zu jung – David schätzte ihn auf Anfang dreißig. Der dunkelblonde Mann trug einen Schnurrbart, einen sportlichen, leicht zerknitterten Anzug und hatte einen wachen Blick. Vielleicht ein Tourist.
    Der Muße des ungestörten Lesens beraubt, klappte David sein Buch zu, nahm einen Schluck aus seinem Glas und eröffnete den traditionellen Ritus einer englischen Unterhaltung.
    »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist David Newton. Ich studiere hier, am University College.« Und mit Blick auf die Oxford-Karte fügte er hinzu: »Sie scheinen hier fremd zu sein. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«
    Der Mann lächelte freundlich, erhob sich andeutungsweise von seinem Stuhl und streckte David die Hand entgegen. »Angenehm. Mein Name ist James Ronald R. Tolkien. Vielen Dank für das Angebot, aber ich habe selbst hier in Oxford studiert und kenne mich gut in der Stadt aus.«
    »Oh!«
    Tolkien musste schmunzeln. »Der Stadtplan ist nur für einen Freund in Leeds. Ich habe ihn gerade gekauft.«
    »Ach so. Wohnen Sie jetzt dort?«
    »In Leeds? Ja, ich bin dort als Privatdozent für altenglische Sprache und Literatur tätig, demnächst vielleicht auch mit einer eigenen Professur.«
    David staunte. »Also darauf wäre ich bestimmt nicht gekommen.«
    »Wieso? Bin ich Ihnen zu jung?«
    »Entschuldigen Sie, Sir, aber ehrlich gesagt, ja. Sie können doch nicht älter sein als…« David biss

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