Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
sich auf die Unterlippe. Er war hier schon so vielen arroganten Besserwissern begegnet, dass ihn die offene Art dieses Mannes völlig verwirrte.
Tolkien lächelte nachsichtig. »Ich bin tatsächlich erst einunddreißig. Finden Sie das zu jung für einen Professor?«
David erzählte von der Ulysses-Kontroverse im letzten Herbst. Mit einem so jungen Englischprofessor wie Tolkien wäre die Auseinandersetzung um den Joyce-Roman vielleicht anders verlaufen.
Der Dozent aus Leeds gab zu, dass sein Spezialgebiet eher die mittelenglische Literatur sei. Er habe unter anderem zwei Jahre am Oxford English Dictionary mitgearbeitet. Mit diesem umfangreichen Nachschlagewerk verfolge man das Ziel, die Entwicklung der gesamten englischen Sprache anhand von Millionen von Literaturverweisen aufzuzeigen. Das sei eher sein Metier als die Fäkalsprache des Iren.
David legte sein Buch auf den Tisch und beugte sich interessiert vor. Dieser Mann faszinierte ihn. »Nach dem Kriegsdienst habe ich mich ebenfalls für Englisch als Studienfach entschieden. Und außerdem noch für Geschichte. Ich bin gerade im dritten Jahr. Nach dem Bakkalaureat mache ich jetzt noch meinen Magister.«
Jetzt war es an Tolkien zu staunen. »Sie scheinen ja einer von der ganz schnellen Truppe zu sein. Bei mir liegen sechs Jahre und ein Krieg zwischen dem B. A. und dem M. A. Wie haben Sie es überhaupt geschafft, sich für diese Kombination von Fächern zu immatrikulieren? Ist der Master des Colleges Ihr Vetter?«
David zuckte mit den Schultern. Was sollte er darauf erwidern?
Tolkien blickte ihn fragend an. »Entschuldigen Sie, wenn mir nichts Neues einfällt, aber Sie sehen auch noch sehr jung aus. Habe ich mich da verhört oder waren Sie wirklich im Krieg?«
»Ja, als Infanterist an der Westfront. Von ‘16 bis ‘18.«
»Dann hätten wir uns eigentlich sehen müssen«, scherzte Tolkien. »Mich haben sie auch dorthin geschickt, allerdings schon ein Jahr früher.«
Abgesehen von den traumatischen Folgen des Krieges übte diese schrecklichste aller Krankheiten der Menschheit schon immer eine sonderbare, beinahe rührende Sensibilisierung bei jenen aus, die sie überleben konnten: Sobald zwei Männer sich als ehemalige Kameraden ausmachten, gingen sie miteinander um wie die dicksten Freunde. Den beiden fast noch jugendlichen Kriegsveteranen in der Isis Tavern erging es nicht anders. Sie entdeckten schnell weitere Gemeinsamkeiten. Wer ihr Gespräch zufällig anhörte, musste unweigerlich glauben, sie kennten sich schon von Kindesbeinen an.
Tolkien erzählte, wie ihn die Entwicklung der Sprache und die Erforschung alter Schriften fasziniere. Hierauf gestand auch David seine Liebe zum geschriebenen Wort und berichtete von seinen ersten Erfolgen in der Londoner Presse.
Als er dem Dozenten von dem toten Poeten Wilfred Owen erzählte, schwiegen beide, als trauerten sie um einen gemeinsamen Freund.
»Man muss in der Tat persönlich in den Schatten des Krieges geraten, um zu erfahren, wie bedrückend er ist«, sagte Tolkien nach einer Weile.
David nickte. »Ich kann mir das Trauma dieses Gemetzels von der Seele schreiben – wenigstens glaube ich das. Aber ich weiß von vielen Männern, die von der Somme zurückkamen und einfach stumm blieben. Sie sprechen fast nie über ihre entsetzlichen Erlebnisse.«
»Das Gleiche habe ich auch beobachtet. Es ist wie eine schockbedingte Betäubung. Ich weiß von einem ehemaligen Kameraden, den ein und derselbe Alptraum immer wieder heimsucht: Er konnte einem verwundeten Kameraden nicht helfen, der nach ihm rief, während er selbst – außer sich vor Angst – durch das Niemandsland zurückkroch. Jede Nacht lässt er den Freund erneut im Stich. Ist das nicht schlimm?«
»Mein bester Freund wurde direkt neben mir erschossen. Manchmal denke ich, er wäre noch am Leben, wenn ich nur eine Sekunde vorher seinen Namen gerufen hätte.«
»Woher solltest du wissen, was ihm im nächsten Augenblick passiert?«
David blickte nur verzweifelt in Tolkiens Augen.
»Komm«, sagte der Ältere und klopfte dem Jüngeren tröstend auf den Unterarm. »Ich habe selbst, bis auf einen, alle meine engsten Freunde im Feld verloren und kann mit dir fühlen. Die Erinnerung ist ein Fluch, wenn du dich von ihr niederdrücken lässt, aber ein Segen, wenn du aus ihr lernst. Das ist mir klar geworden, als ich im letzten Kriegsjahr im Lazarett gelegen habe.«
»Du auch?«, staunte David. »Ich habe von April bis Mai im Krankenbett verbracht, nachdem ich
Weitere Kostenlose Bücher