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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Rothermere war der Bruder des hingeschiedenen Northcliffe. Er hatte bisher die zweite Geige in dem größten Zeitungsimperium des Landes gespielt. Was eine Anstellung Davids bei der Times betraf, wollte Rothermere nichts versprechen – er trage sich nämlich mit dem Gedanken, das wenig lukrative Nobelblatt abzustoßen, gestand er offen ein –, aber er besitze ja noch »einen Strauß anderer Blätter«. Was Alfred, sein Bruder, David versprochen habe, das wolle er, Harold, gerne erfüllen. Schon bei nächster Gelegenheit könne David ein Volontariat beim Observer beginnen. Und dann, wenn er sein Studium erst beendet hätte, würde Rothermere für das hoffnungsvolle Talent auch eine passende Redaktion finden – beim Observer, dem Daily Mirror, den Evening News, der Daily Mail …
    Bei allem Trübsinn, der Davids Seele im Spätsommer erfüllte, ging er aus dieser neuerlichen schweren Prüfung dennoch gestärkt hervor. Aus dem Vermächtnis seines Vaters und den eigenen Erfahrungen ließen sich durchaus auch ermutigende Schlüsse ziehen: Offenbar hatte es immer Menschen gegeben, die den Kampf gegen den Kreis der Dämmerung – meistens unbewusst – unterstützten. So war es bei Großvater Edward, der seinen Vater adoptiert hatte, und so verhielt es sich auch bei Sir William, auf dessen Rat und Hilfe sich David stets hatte verlassen können. Und jetzt stand wieder jemand bereit in die Bresche zu springen, die der Tod von Freunden oder zumindest doch Wohltätern gerissen hatte.
    Während der letzten Monate des Jahres 1922 wurde David daher von einer kompromisslosen Entschlossenheit vorangetrieben, für die das Prädikat »wild« nur deshalb unpassend war, weil es nicht mit der traditionsverhafteten Welt Oxfords harmonierte. Hier war alles jahrhundertealt. Auch die Professoren. Jedenfalls beschlich David mehr als einmal dieser Verdacht.
    Da Studenten per definitionem genau das Gegenteil, also ungemein fortschrittlich sind, entstand im Herbst ein nicht geringer Wortstreit über ein gewisses Werk, dem diverse etablierte Wissenschaftler das Attribut »literarisch« gleich von vornherein absprachen. Es handelte sich um den Roman Ulysses des Iren James Joyce. Die Englischstudenten forderten leidenschaftlich eine Besprechung desselben, was schon allein deshalb von den Professoren abgelehnt wurde. Die Verantwortlichen des University College begründeten ihre Verweigerung natürlich auf wesentlich subtilere Art und Weise.
    Dieser Joyce hätte schon gewusst, reklamierten sie, weshalb er sein Pamphlet – offenbar in weiser Voraussicht der schockierenden Wirkung – nach dem Krieg nur in einzelnen Abschnitten, sozusagen klammheimlich, veröffentlicht habe. Die Zeitschrift The Little Review, die ihren Namen für diese Untat hergegeben habe, sei wenigstens gebührend bestraft worden: Die verantwortlichen Redakteure habe man kurzerhand ins Gefängnis gesperrt. Das Schandwerk, das sich hinter der harmlosen Fassade eines Romans verstecke, sei ja dann löblicherweise in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien verboten worden. Wegen der »Behandlung sexueller Dinge in der Alltagssprache der unteren Klasse«, lautete die präzise Begründung. Dass Joyce sich in den inneren Monologen seiner Protagonisten in geradezu epischer Breite über die Einzelheiten des menschlichen Verdauungsapparats erging, schockierte selbst die abgebrühtesten Zensoren. Dummerweise sei der Same des unaussprechlichen Machwerks dann aber doch in Paris auf fruchtbaren Boden gefallen – die Franzosen hätten ja noch nie ein Gespür für Sitte und Anstand gehabt. Seitdem begeisterte Ulysses die Massen.
    Es sollte späteren Studentengenerationen vorbehalten bleiben, James Joyce zu einem Kultautor zu machen. Vielleicht hätte William Shakespeare das Ganze als eine »Komödie der Irrungen« abgetan und frei nach der Devise »Wie es euch gefällt« jedem das Recht zugestanden selbst über Geschmack und Moral zu entscheiden. Wie auch immer: Ihn gab es ja für David und seine Kommilitonen noch, Willy, den »größten Dramatiker und Lyriker«, Willy, den man auf jeder Party in der weisen Voraussicht zitieren konnte, dass einem unverzüglich alle Frauenherzen zuflogen.
    Derartige Vorhaben gehörten jedoch nicht zu Davids vordringlichen Zielen. Er wollte sein Studium mit Erfolg abschließen und anschließend ein Journalist werden, der begehrt genug war, um von seinen Auftraggebern über den Globus gejagt zu werden. Nur so glaubte er irgendwann einen Hinweis auf den

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