Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
die Leute mit der Nase auf Wahrheiten zu stoßen, ohne dass sie dich zum Teufel jagen.«
»Ich wollte den Präsidenten nur aus der Reserve locken. Als er sagte, die Kirche solle sich lieber um ihre Schäfchen kümmern, als sich in die Politik einzumischen, hat er mir jedenfalls aus der Seele gesprochen.«
»Das hat er dir aber unter dem Mantel der Verschwiegenheit anvertraut!«
»Keine Angst, ich halte mein Wort. Wir haben auch so genug Stoff, um einen interessanten Artikel über Coolidges härtere Gangart in der Außenpolitik zu schreiben.«
Die ersten Monate von Davids Arbeit für Time waren nicht alle so aufregend wie das Präsidenteninterview. Schon bald erinnerte sich Luce seiner hervorragenden Japankenntnisse und David wurde damit beauftragt, entsprechende Themen zu recherchieren. Auf diese Weise begründete er eine bemerkenswerte Tradition im Hause des eigentlich doch so amerikanischen Wochenmagazins: Time brachte mehr Titelstorys über Japan als über die meisten anderen Länder.
Manchmal waren es aber auch ganz banale Themen, die David auf seiner Schreibmaschine zu interessanten Stoffen verarbeitete. Als am 12. Oktober 1924 ein deutscher Zeppelin nach erstmaliger Atlantiküberquerung in New York City landete, verfasste er einen Bericht über den kühnen Kapitän des Luftschiffes, Hugo Eckener. Natürlich gelang es David, den stolzen Luftfahrtpionier persönlich zu befragen.
Rebekka unterstützte David, so gut sie konnte, und er ließ sie immer fühlen, wie wichtig sie für ihn war. Weil ihr die fast beschauliche Atmosphäre von Greenwich Village so gut gefiel, ermunterte er sie, dort eine Wohnung zu suchen. Im September nach ihrer Ankunft wurde sie fündig und bevor der Monat zu Ende ging, wohnten sie in einem hübschen Reihenhaus mit fünf Zimmern in der Charles Street.
David wurde von seinen Chefs kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten geschickt und wenn immer es möglich war, nahm er Rebekka mit. Trotzdem musste er sie häufig alleine lassen, weshalb er sie ermutigte, ihren Klavierunterricht wieder aufzunehmen. Bald willigte sie ein und als New York im November nass und kalt wurde, erwärmten die Töne von Bachs Wohltemperiertem Klavier das ganze Haus.
Die junge Ehe, die vielen neuen beruflichen Herausforderungen und die vermeintliche Sicherheit in der Anonymität der größten Stadt der Welt trugen dazu bei, dass David seine Suche nach dem Kreis der Dämmerung etwas schleifen ließ. Doch als ihm Anfang April 1925 in der Redaktion eine winzige Nachricht in die Hände fiel, erwachte die Vergangenheit wieder schlagartig.
Davids Blick fiel zufällig auf einen Zeitungsausschnitt, der mit vielen anderen bereits im Papierkorb lag, weil die Meldungen für Time nicht verwertbar waren. Er stutzte. Da lugte ein Name unter einem anderen Schnipsel hervor, der davon berichtete, dass Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg am 26. April zum zweiten deutschen Reichspräsidenten gewählt worden war. David schnippte das lebende Kriegerdenkmal beiseite und zog den darunter liegenden Zettel hervor. Nur seine Lippen bewegten sich, während er leise den Artikel las.
Am 30. März war in Dornbach bei Basel Rudolf Steiner verstorben. Der Name löste in Davids Kopf eine Gedankenkette aus: Steiner war der Gründer der Anthroposophischen Gesellschaft, deren Weltbild sich neben goethischen Gedanken auch aus indischen, gnostischen, kabbalistischen, christlichen und theosophischen Elementen zusammensetzte. In der Britischen Bibliothek hatte David über ihn gelesen. Damals war er auch auf den Namen von Mme. Blavatsky gestoßen, die meinte von überirdischen Wesen erleuchtet worden zu sein. Beide, Steiner und Blavatsky, hatten ihre Wurzeln unter anderem in der Kabbala. Die Lurianische Variante dieser Geheimlehre wollte das göttliche Licht in den Scherben des Bösen, des Kelippoth, eingeschlossen wissen.
Unwillkürlich wanderte Davids Hand wieder zu dem Ring, den er an seiner Halskette trug. Auf Blair Castle hatte er ihn abgelegt – er erinnerte sich noch an das seltsame Farbspiel, als das Mondlicht das Abbild des Schmuckstückes vielfach durch ein Wasserglas projiziert hatte. Er konnte sich nicht erklären wie, aber mit einem Mal war er sich fast sicher, dass er den Ring nicht hätte abnehmen dürfen. Nur so konnte Negromanus ihn finden.
Zum dritten oder vierten Mal las David die Nachricht von Steiners Tod. John Stewart-Murray, Davids neuer Adoptivvater, hatte gesagt, er solle den Schwanz des Drachen packen,
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