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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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messen.«
    »Die Ilias?«, fragte David ungläubig.
    »Genauer gesagt, die Britische Version davon. Sie ist gespickt mit Anmerkungen. Auf den hinteren Buchseiten hat er hunderte von Wörtern, besonders Verben und zusammengesetzte Adjektive, aufgelistet, die er für frisch und kraftvoll hält.«
    David stieß hörbar die Luft aus. »Ich muss mich mit Homer messen! Also damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«
     
     
    Wie sich bald herausstellen sollte, wurde David von seinen Arbeitgebern mehr für seine außergewöhnliche Fähigkeit mit Menschen umzugehen geschätzt und weniger wegen seines literarischen Stils. In den Anfangsjahren von Time wurden die meisten Artikel am Schreibtisch geboren und nicht irgendwo draußen am Ort des Geschehens. Man zerschnitt Zeitungen, reduzierte die dabei entstehenden Schnipsel, bis nur noch wenige übrig waren, und fing dann an daraus Artikel und Essays zu verfassen.
    David gehörte zu den ersten, die auch hinausgingen und Leute – den »Rohstoff« des Time-Magazins – befragten. Es war immer wieder das gleiche Spiel: Er sprach bei einer Sekretärin vor, die ihn eigentlich abwimmeln wollte. Aber sobald er die Notwendigkeit des Interviews dargelegt hatte, konnte sie ihm nicht mehr widerstehen. Genauso verlief es, wenn er endlich zum gewünschten Gesprächspartner vorgelassen wurde. Seine Vorgehensweise hätte natürlich nicht funktioniert, wenn er mit Lügen oder windigen Methoden vorgegangen wäre. David war ein Wahrheitsfinder und als solcher musste er selbst auch wahrhaftig sein.
    Es gab allerdings einen Trick, der nicht unehrenhaft war und daher von seiner Gabe auch nicht durch peinliche Fehlschläge geahndet wurde. Wichtige Personen genießen ihren Ruf zu einem nicht unerheblichen Teil aufgrund der Tatsache, dass sie nie Zeit haben. Wenn er daher das Gespräch mit einer solchen viel beschäftigten Person eröffnete, lautete seine obligatorische Bitte stets: »Geben Sie mir nur fünf Minuten. Wenn Sie glauben, unsere Unterhaltung führt zu nichts, dann werde ich mich anschließend sofort verabschieden.« Nach Ablauf der Frist wollte ihn so gut wie nie jemand gehen lassen.
    Davids größter Triumph in seinem ersten Jahr bei Time war zweifellos das Interview mit Calvin Coolidge, der erst im Vorjahr mit dem Wahlspruch Keep Cool with Coolidge das Rennen um die Präsidentschaft gewonnen hatte. Das Gespräch fand im Frühjahr 1925 statt. Weil Briton Hadden zu einer längeren Europareise aufgebrochen war, begleitete ihn Henry Luce ins Weiße Haus. Es war schon ein enormer Vertrauensbeweis, als der Herausgeber seinen Jungreporter dieses wichtige Interview führen ließ. Manchmal juckte es Henry in den Fingern, wenn David eine besonders provozierende Frage stellte.
    »Mr President, der Völkerbund hat seit seiner ersten Sitzung am 15. November 1920 keine besonders erfolgreiche Partie gespielt. Seitdem starben und sterben immer noch tausende Menschen in bewaffneten Konflikten. Gegen Wilsons Bestreben hatte der amerikanische Senat den Vertrag nicht ratifiziert. Den Wahlsieg Ihres Vorgängers Warren G. Harding hat man gar als ein überwältigendes Votum des Volkes gegen diesen angeblichen Friedensbund ausgelegt. Andererseits hatte der Nationalrat der Kirchen Christi in Amerika schon am 18. Dezember 1918 erklärt, ich zitiere: ›Ein solcher Bund ist nicht bloß ein politischer Friedensbehelf, er ist vielmehr der politische Ausdruck des Königreiches Gottes auf Erden… Der Völkerbund ist im Evangelium verwurzelt.‹ Hierzu meine Frage, Mr President: Wie stehen Sie zum Völkerbund? Hat die Kirche Unrecht oder Ihr republikanischer Parteigenosse und Amtsvorgänger?«
    Als David und Luce später mit einem dicken Schreibblock voller Notizen zum Washingtoner Bahnhof fuhren, schüttelte der Time-Herausgeber den Kopf und gestand: »Du bist ganz schön mutig, Francis, den Präsidenten vor die Alternative ›Gott oder die Partei‹ zu stellen. Dir musste doch klar sein, dass du – egal wie er antworten würde – nicht drucken kannst, was er sagt. Wenn er sich gegen Harding ausspricht, heizen ihm die Republikaner ein, andererseits hat er seinen Präsidenteneid auf die Bibel abgelegt. Dass Gott ihm die Hölle heiß macht, kann wohl auch nicht in seinem Interesse liegen.«
    David grinste. »Ich hatte eigentlich gedacht, er würde sich seinen eigenen Wahlspruch zu Herzen nehmen: Keep Cool with Coolidge.«
    »Na, einen kühlen Kopf hat er ja bewahrt. Ich wundere mich immer wieder, wie du es schaffst,

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