Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
kurzen Tagen in New York City brach das Paar zu einer Rundreise auf, die sie unter anderem zu den Niagarafällen und bis nach Washington, D. C, führte. Weil es sehr unbequem gewesen wäre, Rebekkas zahlreiche Einkäufe mit auf die Besichtigungstour zu nehmen, zog das Paar kurz vor der Abreise in eine kleine Pension in Greenwich Village um.
Das Abingdon Guest House stammte aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, war mit liebevoll restaurierten Möbeln eingerichtet und wurde von einem netten älteren Ehepaar geführt. In der familiären Atmosphäre dieses überschaubaren Etablissements würde sich Rebekka gewiss wohler fühlen als in der überladenen Noblesse des riesigen New York Plaza, hatte David ihr erklärt. Außerdem sei es erheblich billiger.
Rebekka hatte nie ernstlich angenommen, dass sich ihrer beider Leben weiter in jenem Luxus fortsetzen würde, der für ihre letzten Unterkünfte kennzeichnend gewesen war. Sie zeigte sich sogar glücklich mit den bescheideneren Räumlichkeiten, weil sie eher den Verhältnissen entsprachen, die sie von ihrer Kindheit und Jugend her kannte. Sie werde sich im Abingdon Guest House gewiss wohl fühlen, flüsterte sie daher David ins Ohr, als sie das Zimmer besichtigten. Bis zum Bezug einer eigenen Wohnung stand damit ihre neue New Yorker Adresse fest. Sie lautete 13 Eighth Avenue.
Am Montag, dem 18. August 1924, morgens um acht begann für David ein neuer Lebensabschnitt. Mit einer ledernen Aktentasche, in der sich nicht viel mehr als ein Sandwich befand, erschien er in den Redaktionsräumen des Time. Charlotte, die nicht nur Haddens Sekretärin war, sondern auch als Empfangsdame fungierte, begrüßte ihn wie einen alten Mitarbeiter und schleifte ihn umgehend in John Martins Büro.
Der Cousin von Briton Hadden war für das Wochenmagazin das, was man gemeinhin als Mann der ersten Stunde bezeichnete. Er besaß das Wesen einer Wüstenrennmaus, war ständig in Bewegung und konnte selbst beim Überarbeiten eines Manuskriptes nicht still sitzen. Trotzdem brachte er brillante Artikel von geradezu literarischer Qualität zustande.
John selbst (auch er bestand sogleich auf den »vereinfachten Umgangsformen« des Hauses) benutzte übrigens ständig Metaphern aus dem Tierreich. Auf seine geringe Körpergröße anspielend, stellte er sich als »Terrier von fünf Fuß und dreieinhalb Inch« vor. Sein dunkler Kinnbart und die ständig in Bewegung befindlichen braunen Augen unterstrichen diesen bildhaften Vergleich durchaus. Allerdings wollte David beim besten Willen kein Tier einfallen, das ständig mit einer Meerschaumpfeife herumlief.
»Brit hat strenge Regeln aufgestellt, wie eine Time-Ausgabe aussehen muss«, erklärte John und zog an seiner Pfeife, was den Tabak zum Erglühen brachte. Obwohl er erst in Davids Alter war – vielleicht sogar ein, zwei Jahre jünger –, war er im Verlag eine wichtige Person. Er verfasste eigene Artikel von bemerkenswertem Tiefgang, trimmte aber auch die Texte anderer Reporter auf die Handschrift der Herausgeber. »Das bezieht sich nicht nur auf die grafische Gestaltung, sondern noch viel mehr auf die Wortwahl. Brit ist wie ein Specht, der nur einmal in dein Manuskript zu picken braucht, um sofort einen Wurm herauszuziehen.«
»Und was ist für ihn ein ›Wurm‹?«, erkundigte sich David lernbegierig.
»Das klassische Beispiel ist ein Bandwurmsatz. Versuche dich so kurz wie möglich auszudrücken. Wenn du in deinem Text schreibst: ›Am Anfang des Jahrhunderts‹, dann wird er das garantiert durchstreichen und ›Zum Jahrhundertanfang‹ daraus machen.«
»Zwei Wörter statt vier«, sagte David nickend.
»Du hast es verstanden. Mit Eigenschaftswörtern ist es ähnlich. Brit ist verliebt in zusammengesetzte Adjektive. Wenn ein mexikanischer General einen feurigen Blick hat, dann komm ja nicht auf die Idee und schreibe: ›General Soundso hat Augen, die so wild sind wie die eines Jaguars.‹ Brit würde dich rauswerfen. Wenn du aber textest: ›Der wildkatzenäugige General‹, dann ist er glücklich. Du darfst ruhig neue Adjektive erfinden, damit dein Text etwas literarischer klingt, das ist Time-like, wenn du verstehst, was ich meine.«
David kratzte sich am Kopf. »Ich denke schon.«
»Solltest du mal ein Exemplar von Homers Ilias auf Brits Schreibtisch sehen, dann nimm dich in Acht. Er hat aus dem Epos über den Trojanischen Krieg ein Lehrbuch für Textgestaltung gemacht und wird es vermutlich benutzen, um deinen Artikel daran zu
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