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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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seit ‘21 die NSDAP anführt. Er lässt sich mit Vorliebe in Lederhosen fotografieren.«
    David nickte. »Hat er im letzten November nicht von München aus einen Staatsstreich gegen Stresemann versucht?«
    »Von genau dem spreche ich. Sein Putsch ist jämmerlich gescheitert. Im April wurde Hitler übrigens zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aber keiner glaubt, dass er so lange einsitzen wird – wir haben ausführlich über den Prozess berichtet. Heute lebt er wie die Made im Speck auf seiner bayerischen Burg und genießt in Gesellschaft seiner Mitverschwörer eine Haftstrafe, die eher dem Stubenarrest eines unartigen Pennälers entspricht.«
    »Und warum glauben Sie, dass die Menschen sich ausgerechnet für diesen Hitler interessieren?«
    »Sein alberner Putschversuch wäre bestimmt kaum eine Randbemerkung wert gewesen, aber der Mensch – wer ist dieser Mann, der nicht einmal die Realschule schaffte und plötzlich an der Spitze einer Partei steht? Hat er etwas, das ihn im carlyleschen Sinne zu einem Großen macht, der möglicherweise bedeutende Ereignisse auslösen könnte? Und wer sind die Gesichter hinter ihm? Dieser Hermann Göring, der bei dem Aufruhr schwer verletzt wurde und den Behörden nach Österreich entkommen ist. Oder eher noch dieser andere, sein Sekretär – wie hieß er noch gleich? Rudolf Heß! Ja. Warum ist er freiwillig aus Österreich zurückgekehrt, um mit dem ›Führer‹ die Festungshaft zu teilen (abgesehen davon, dass dort wahrscheinlich die Verpflegung besser ist)? Und was hat es mit dem Buch auf sich – ich glaube, es soll Mein Kampf heißen –, das Hitler angeblich in seinem Nobelkerker diktiert? Die Antworten auf solche Fragen zu finden, bedeutet Geschichten über Menschen zu schreiben.«
    David nickte. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, Henry.«
    »Und? Können Sie sich mit unserer neuen journalistischen Philosophie anfreunden?«
    »Das Interesse an Menschen hat mich bewogen diesen Beruf zu ergreifen. Es bleibt dabei: Ich würde sehr gerne für Time schreiben.«
    Wieder wechselten Luce und Hadden einen kurzen Blick, offenbar eine letzte Abstimmung. Zwar konnte David nicht erkennen, wie die alten Klassenkameraden miteinander kommunizierten, aber jedenfalls erhob sich Briton Hadden unvermittelt, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Herzlich willkommen bei Time, Francis.«
     
     
    Louis Armstrong galt als der »größte Trompeter der Welt«. So wurde er auf Konzerten angekündigt. David – noch viel mehr aber Rebekka – liebte dessen virtuose Art Dur- und Molltöne miteinander zu verquirlen und daraus jenen unverwechselbaren Klangcocktail zu erschaffen, den inzwischen viele andere zu imitieren versuchten – die meisten nur mit bescheidenem Erfolg. Von Schallplatten und Rundfunksendungen kannten David und Rebekka den schwarzen Musiker bereits, aber als sie ihn jetzt in einem illegalen Club in Harlem sahen, waren sie restlos begeistert. Rebekka quietschte jedes Mal vor Vergnügen, wenn sich die Backen des Trompeters wie bei einem liebeshungrigen Frosch blähten und er dabei mit seinen großen Augen rollte.
    Die Idee stammte von Briton Hadden. Brit war ein Stadtmensch und brauchte das, was er als »Leben« bezeichnete. Sein Steckenpferd waren häufige Besuche in Pubs. Wegen des seit 1920 bestehenden Alkoholverbots artete diese Freizeitbeschäftigung nicht selten in waghalsige Abenteuergeschichten aus. Es förderte nicht unbedingt das Ansehen, wenn man während einer Polizeirazzia in einem verbotenen Ausschank aufgegriffen wurde. David sollte seinen lebenslustigen Chef noch oft schnauben hören, die Prohibition stelle eine der größten Narreteien amerikanischer Politik dar. Da New York City über ungefähr einhunderttausend illegale Kneipen verfügte, war die Enthaltsamkeit seiner Bürger allerdings auf keine allzu harte Probe gestellt.
    Der Besuch in dem Jazzlokal gehörte zu Brits nachträglichem Hochzeitsgeschenk für die Murrays. Er hatte Rebekka unbedingt kennen lernen wollen. Mit ihrem einnehmenden Wesen und dem entzückenden französischen Akzent eroberte sie Davids neuen Chef sogleich im Sturm. Brit bestand darauf, mit den beiden Brüderschaft zu trinken, und wiederholte sodann das schon zuvor an David gerichtete Angebot sich für die Flitterwochen ruhig noch zwei, drei Wochen Zeit zu nehmen. »Einer so hübschen Frau muss man etwas Besonderes bieten, und davon hat Amerika mehr als genug.«
    Wie sich herausstellte, hatte Brit Recht. Nach einigen viel zu

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