Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
mit ihren Armen umschlungen. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Wie von allein schob sich Davids Hand in die Brusttasche seiner Jacke, wo sich Yoshis Abschiedsbrief befand. Er zog ihn heraus und entfaltete ihn. Es schien, als wolle der böige Wind verhindern, dass er sich selbst quälte und die Zeilen wieder und wieder las, aber David klammerte sich an das Papier und ließ einmal mehr die letzten Worte Yoshiharu Itos auf sich wirken.
Seiki-kun!
Mein lieber Freund. Wenn du diese Zeilen liest, bin ich entweder verschleppt worden oder ich lebe nicht mehr. In den letzten Tagen hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Dann bekam ich sogar einen Drohbrief, ich solle nicht weiter hinter Toyama herschnüffeln. Ich glaube, mein Leben ist in Gefahr.
Du fragtest in deinem ersten Telegramm, weshalb ich während Hirohitos Inthronisation so lange mit Toyama gesprochen habe. Ganz einfach: Er sagte mir auf den Kopf zu: ›Sie sind der Sohn von Graf Yukio Ito, nicht wahr?‹ Du kannst dir vorstellen, wie schockiert ich war. Mein Vater hat vor vielen Jahren zusammen mit deinem einen diplomatischen Empfang besucht, auf dem sie ein ziemlich unangenehmes Gespräch mit Toyama führten. Diese Bestie von Mensch muss ein unglaubliches Gedächtnis haben, dass er mich nach so langer Zeit anhand dieser Erinnerung identifizieren konnte. Ich schätze, diesem Umstand verdanke ich die Schwierigkeiten, in denen ich jetzt stecke.
Nun aber zu der erfreulichen Nachricht. Ja, es stimmt: Ich habe den ›Schwanz des Drachens‹ gefunden. Und das, obwohl der ›Kopf‹ versucht hat ihn gründlich zu verstecken. Double-O lebt nämlich unter dem Namen Ryutaro Kawamura in Iyo-Saijo, im Norden von Shikoku. Besäße Toyamas ehemaliger Koch nicht noch eine Enkelin, die nach wie vor den Namen Ozaki trägt, hätte ich den alten Mann nie aufgespürt. Frage im Dorf nach einer Momoko Ozaki. Alles Weitere überlasse ich deiner legendären Überredungskunst. Falls wir uns nicht mehr wieder sehen, wünsche ich dir und deiner Frau Glück, Frieden und ein langes Leben.
Der siebenundvierzigste der Ronin.
David zuckte erschrocken zusammen, als er in seinem Gesicht eine Berührung spürte. Sie war weich und sanft, aber selbst seine Sekundenprophetie war im Moment wie betäubt.
Rebekka steckte ihr Taschentuch wieder ein. »Entschuldige, Schatz. Ich wollte nur deine Tränen abwischen.«
»Schon gut.«
»Wer sind diese Ronin?« Sie deutete auf den Brief.
David lächelte ob der rührenden Bemühungen seiner Frau ihn abzulenken. »Ein Haufen wilder Samurai. Als Yoshi und ich noch klein waren, sind wir immer in ihre Rollen geschlüpft. Damals hat uns die steinerne Schildkröte oft als Versteck gedient. Die Ronin haben der Legende nach ihren Landesfürsten gerächt, der von üblen Gesellen…« Er stockte und seine Augen wurden groß.
»David?«
»… zum seppuku gezwungen wurde«, beendete er den Satz und sah Rebekka aufgeregt an.
Sie wusste, was in diesem Moment in seinem Kopf vor sich ging. »Du glaubst, Yoshi wollte dir damit einen Hinweis geben, nicht wahr?«
David nickte. »Vielleicht stand in dem Drohbrief, den er erwähnte, eine Andeutung, die ihn ahnen ließ, was man mit ihm vorhatte. Ja, so muss es gewesen sein. Er wollte uns mit seinem Abschiedsbrief mitteilen, dass er sich niemals freiwillig das Leben genommen hätte.«
»David, pass auf!«
Rebekkas Warnung kam zu spät. Eine heftige Bö hatte David den Abschiedsbrief Yoshis aus der Hand gerissen. Sie sahen noch, wie er eine Zeit lang über dem aufgewühlten Meer hin und her flatterte und schließlich im Wasser niederging. Gleich darauf war er verschwunden.
»Oh nein!«, jammerte Rebekka.
»Lass nur«, beruhigte sie David. »Vielleicht ist es sogar besser so.« Und während er sich an die Schläfe tippte, fügte er hinzu: »Ich habe jedes einzelne von Yoshis Worten hier oben archiviert. Jetzt bin ich der letzte der Ronin und es obliegt mir ganz allein, den gemeinen Mörder zur Strecke zu bringen.«
Als David und Rebekka am nächsten Tag im Hafen von Kochi an Land gingen, war ihre Reise noch lange nicht zu Ende. Sie mussten die Insel erst von Süden nach Norden durchqueren, um das Fischerdorf Iyo-Saijo zu erreichen.
Zu diesem Zweck bestiegen sie einen Autobus, der Rebekka schon von außen einen Riesenschrecken einjagte. Das Ding sah aus wie eine blecherne Seegurke und David hoffte inständig, es würde sich nicht wie seine Artverwandten im Meer überraschenderweise umstülpen und
Weitere Kostenlose Bücher