Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
seine Innereien – die Passagiere – über irgendeiner Gebirgsschlucht herausschleudern.
Der Busfahrer, ein kleiner, hagerer Japaner mit einem langen fadenartigen Schnurrbart, machte jedenfalls einen zuversichtlichen Eindruck. Nachdem er alle Passagiere in sein Monstrum komplimentiert hatte, setzte er sich hinter das enorm große Steuerrad und begann japanische Volksweisen zu singen. Ob diese Maßnahme eher der Beruhigung oder einfach nur der Unterhaltung der Fahrgäste dienen sollte, war nicht ganz klar. Jedenfalls konnte die Tenorstimme nur unvollkommen das quietschende, knarrende und ratternde Orchester des Fahrzeugs übertönen. Als David und Rebekka schließlich nach einer unermesslich langen Zeit in Iyo-Saijo lebend die Gurke verließen, taten sie das in der festen Überzeugung den gefährlichsten Teil ihrer Reise glücklich überstanden zu haben.
Iyo-Saijo lag zu Füßen des mächtigen Ichizuchi am so genannten »Binnenmeer«. Weil im Ort mehrere der Inselstraßen zusammenliefen, war er nicht ganz so winzig, wie man sich ein klassisches Fischerdorf vorstellen mochte. Aber Japans Bevölkerung musste sich auf den gebirgigen Inseln ohnehin sehr zusammendrängen, damit sie in den schmalen Küstenregionen unterkam.
Über das Postamt erfuhr David sehr schnell, wo Momoko Ozaki, die Enkelin des Gesuchten lebte. Sie bewohnte mit ihrer Familie ein unscheinbares Holzhaus im Süden des Ortes. Wenig später standen David und Rebekka einer kleinen Frau Anfang dreißig gegenüber. Sie besaß ein hübsches rundes Gesicht, in dem sich das Lächeln ihrer Besucher allerdings auf ziemlich argwöhnische Weise widerspiegelte.
»Ich habe keinen Großvater«, antwortete sie barsch und wedelte mit ihren kleinen Händen, als wolle sie böse Meergeister vertreiben.
David machte ihr klar, dass es um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit ging. Er war sowieso kein Mann, der zu Lügen Zuflucht nahm, um sich einen Vorteil zu erringen, aber hier merkte er schnell, dass nur seine besonderen Gaben ihm weiterhelfen konnten. Wenn er diese Frau überzeugen wollte, dann musste er offen mit ihr sprechen.
Also erklärte er Momoko Ozaki geduldig, ihr Großvater Ohei Ozaki sei ohne Frage ein ehrenwerter Mann. Aber er habe einst einem Herrn gedient, dessen Umtriebe alles andere als ehrbar seien. Dieser mächtige Mensch habe den Tod vieler Unschuldiger zu verantworten. Aber das sei nicht einmal das Schlimmste: Oheis einstiger Herr sei in einen Plan verwickelt, der nicht nur Nippons Bevölkerung, sondern sogar die der ganzen Welt bedrohe.
Normalerweise hätte nun vielleicht ein Zuhörer den Kopf geschüttelt und ausgerufen: Alles Humbug! Aber wenn David einem die ungeschminkte Wahrheit vor Augen hielt, dann war das anders. Momoko Ozaki sah ihn eine Weile lang entsetzt an. Dann machte sie mehrere kurze Verbeugungen und sagte: »Kommen Sie mit mir, Murray-san, ich werde Sie zu meinem Großvater bringen.«
Was nun folgte, war ein mittelschwerer Aufstieg, der David, Rebekka und ihre Führerin Momoko in Richtung Süden aus dem Ort herausführte. Unterwegs warnte die mit einem Mal sehr freundliche Frau vor der Launenhaftigkeit ihres Großvaters. Wie alte Leute eben so seien. Was er sage, meine er meistens nicht persönlich. David beruhigte Momoko. Er besitze ein dickes Fell.
Bäume und Büsche säumten ihren Weg und an jeder Wegbiegung hatte man neue atemberaubende Ausblicke auf das Binnenmeer im Norden. Endlich bog Momoko in einen kleinen Seitenweg ein, nicht mehr als ein Trampelpfad, und bald darauf standen sie vor einem hübschen Häuschen im traditionellen Stil der Gegend.
»Toyama muss seinen Koch wirklich sehr geschätzt haben, wenn er ihm diesen Altersruhesitz verschafft hat«, flüsterte David in Rebekkas Ohr, nicht daran zweifelnd, dass es genau so gewesen sein musste.
»Großvater!«, rief Momoko und lächelte ihren beiden Begleitern zu.
Kurz darauf waren Schritte zu vernehmen. Es hörte sich eher wie ein Schlurfen an, allerdings in erstaunlich schneller Folge. Eine Tür wurde geöffnet und ein alter Greis erschien. Sein Gesicht sah aus wie eine Luftaufnahme der Insel – über und über mit Furchen durchzogen. Wie die meisten Japaner war er nicht sehr groß und erheblich hagerer, als David ihn sich anhand der Beschreibungen seines Vaters vorgestellt hatte.
»Was soll das, Momo?«, fauchte er in Richtung seiner Enkeltochter. »Weshalb schleppst du mir diese Langnasen an?«
Momoko verneigte sich ehrfürchtig vor dem alten Mann,
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