Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Tatami-Matten auf dem Fußboden eigneten sich vorzüglich zum Purzelbäumeschlagen. Es gab keine Stühle, die im Wege standen. Sogar die Tische waren für die beiden Knirpse nicht zu hoch. Selten kullerte einmal ein Kind durch die dünnen Reispapierwände. Und fast nie gingen Blumenvasen zu Bruch – dafür sorgte schon Yoshiharus Mutter.
Wenn es ihr doch einmal zu bunt wurde, schickte sie die beiden Zwergtaifune hinaus in den Garten. In einem stillen Winkel des Ito-Anwesens lagen nur Steine verschiedener Größen und Formen herum. Yoshis Vater ließ es sich nicht nehmen, im Steingarten regelmäßig mit einem großen Rechen parallele Furchen in ein Bett aus runden Flusskieseln zu ziehen – vor allem dann, wenn David und Yoshi dort zuvor ihre Bambusschwertkämpfe ausgetragen hatten. In dem pflanzenlosen Gartenareal gab es auch einen »toten Briefkasten«, eine steinerne Schildkröte, unter der die beiden Nachwuchssamurais ihre streng geheimen Botschaften versteckten.
Der kleine Viscount Camden und der noch kleinere Viscount Ito waren schon ein seltsames Paar. Ersterer kam gertenschlank und weißhaarig daher, Letzterer klein, pummelig und mit rabenschwarzem Schopf. Durch die Freundschaft mit Yoshi wuchs David in einer Mischung aus abendländisch-britischen und fernöstlich-japanischen Sitten und Gebräuchen auf.
Als Zweijähriger hatte Yoshiharu seinem Freund David einen neuen Namen verliehen. Seit diesem Tage war der weißhaarige Sohn der Camdens für ihn nur noch Sezki- kun – eine kindliche Verballhornung des japanischen seiki no ko. Maggy mochte diesen Namen nicht besonders, was David umso mehr verwirrte, weil ihm bisher niemand von der Weissagung der Hebamme Suda anlässlich seiner Geburt berichtet hatte.
Seiki-kun, das Jahrhundertkind, bemerkte lange nichts von seinen besonderen Gaben. Hauptsächlich deshalb, weil sie für ihn so normal waren. Er benutzte sie unbewusst. Wenn er die Händchen ausstreckte, um einen Mah-Jongg- Stein aufzufangen, der Yoshi erst Sekunden später entgleiten würde, dann dachte er nicht weiter darüber nach, was es hieß, ein Sekundenprophet zu sein. Oder wenn er beim Mühlespiel mit seinem Vater die Zeit für dessen Taschenuhr so langsam vergehen ließ, dass sie beinahe stehen blieb, dann fühlte er sich nicht als Verzögerer, sondern er verlängerte nur die Minuten, in denen er Sicherheit und Geborgenheit verspürte. Noch weniger wusste er, was ein Farbgeber war, als er zum ersten Mal das tat, was er später »den Namen eine Farbe geben« nannte.
Diese vielleicht auffälligste seiner Gaben trat zum ersten Mal in Erscheinung, als David fünf Jahre alt war und verdient aus vielerlei Gründen eine besondere Erwähnung. Die Situation ist jedem bekannt: Man hört von einer Begebenheit aus der eigenen Kindheit und ist mit einem Mal völlig überzeugt sich tatsächlich daran erinnern zu können. Nach einer Weile beginnt man dann zu zweifeln, ob es nicht eher die vielmalige Wiederholung des Geschehens aus dem Munde der Eltern war, die einen diese trügerische Sicherheit hatte spüren lassen. Dann aber gibt es Vorfälle, die, dicken Knoten gleich, am Seil der eigenen Erinnerungen ganz tief unten hängen. Dieses Seil verschwindet irgendwo im Finstern der Vergangenheit, aber die Knoten stehen einem so klar vor dem inneren Auge, dass sie einem Sicherheit geben. Man weiß, bis dahin ist das Seil noch nicht zu Ende, bis dort kann man sich noch hinunterhangeln. Den ersten dieser »Erinnerungsknoten« bildete für David das besagte Ereignis aus seinem sechsten Lebensjahr.
Kein Geringerer als der Tenno – Kaiser Meiji also, der eigentlich Mutsuhito hieß – hatte sich dazu entschlossen, von seinem göttlichen Thron im Palastbezirk zu klettern und sich zum Shimbashi-Bahnhof zu begeben. Dort wollte er den aus Yokohama eintreffenden Zug empfangen oder vielmehr dessen wichtigsten Passagier: den Herzog von Connaught und Sohn des englischen Königs Edward VII. Um die Bedeutung dieses historischen Ereignisses zu begreifen, ist es notwendig, noch einmal einen Blick über die Mauer zu werfen, die das neunzehnte vom zwanzigsten Jahrhundert trennt.
Nippon hatte während der Tokugawa-Periode etwa zweihundertsechzig Jahre lang dem Frieden, den Künsten und der Rückständigkeit gefrönt – Letzteres war jedenfalls die Ansicht der Amerikaner. Die konnten es nämlich nicht verwinden, dass ausländische Schiffe nur in Nagasaki ihre Ladung löschen durften, wobei man streng darauf achtete, dass sich unter
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