Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
wie einen Splitter in das Bewusstsein der Mutter getrieben hatte.
Über die Jahre meldete sich dieser »Dorn im Geiste« immer wieder. Wenn man nur wusste, worauf man zu achten hatte, dann konnte man diese Hinweise kaum übersehen. In Maggys Kopf gab es ein Fach mit der, zugegeben, etwas weitschweifigen Aufschrift »Jahrhundertkindbegabungen«. Dort hinein legte sie all diese Merkwürdigkeiten, mit denen sich ihr Verstand so schwer tat.
Zu den fraglos unwesentlichen, ja sogar schädlichen Dingen gehörte ihrer Ansicht nach Davids Budo-Ausbildung. Neben dem Schwertkampf schloss diese auch den Unterricht im jujutsu ein. Was der Name hier als »sanfte Kunst« verkaufte, war eine Methode sich waffenlos nicht nur zu verteidigen, sondern dem Gegner notfalls auch tödliche Verletzungen beizubringen. Bei einem Menschen wie Maggy, der sich der christlichen Nächstenliebe verpflichtet fühlte, musste ein derart martialisches Getue unweigerlich auf Ablehnung stoßen. Folgerichtig waren Davids beachtliche Fortschritte in der Budo-Kunst auch eher für den Vater ein Anlass zur Freude als für die Mutter. »Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen«, hatte die bibelfeste junge Frau gewettert und der kaum weniger belesene Mann darauf erwidert: »Und womit hat dann David dem Riesen Goliath den Kopf abgeschlagen? Etwa mit einem Stein? Maggy, stell dir nur diese Schweinerei vor! Nein, er hat es mit dem Schwert des Riesen getan. So steht’s in der Heiligen Schrift.«
Der Disput ging noch eine ganze Weile weiter, aber am Ende fügte sich Maggy dem Willen ihres Gatten. Schließlich war sie keine Emmeline Pankhurst oder eine ihrer »Suffragetten«, dieser Frauenrechtlerinnen, die sich an den unpassendsten Stellen an Eisengitter ketteten oder unbescholtene Polizisten ohrfeigten. Bei allem Selbstbewusstsein glaubte Maggy noch an eine von Gott bestimmte Ordnung in der Ehe, die auf gegenseitigem Respekt gegründet war. Sich Geoffrey unterzuordnen fiel ihr nicht einmal schwer, weil sie dessen innere Nöte spürte und ihm helfen wollte.
Geoffrey schien nämlich von der unbegreiflichen Furcht besessen, David könne eines Tages in eine Lage geraten, in der ihm fromme Sprüche allein nichts nützten. Er, Geoffrey, wisse, was er da sage. Im Übrigen gehöre mehr zu einem guten Schwertkämpfer als Kraft und Schnelligkeit. Die Übungen würden den Charakter und die Disziplin des Jungen formen, Tugenden also, die man in Japan so sehr wie in England schätze. Und nur wenn Körper und Geist in Harmonie zusammenwirkten, könne jene Kunst entstehen, die den Meister vom Dilettanten unterscheide.
Nun gehörte es nicht gerade zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten, dass ein englischer Knabe im Budo, also in den japanischen Kampfeskünsten, unterwiesen wurde. Seit dem Beginn der Meiji-Reformen hatte Japan zwar das Wissen der Europäer und Amerikaner aufgesogen wie ein trockener Schwamm, aber mit zunehmendem Wachstum des Selbstvertrauens schwand im Land auch das Ansehen der ausländischen »Langnasen«.
Geoffrey hatte ein gutes Dutzend Monate nach seiner Akkreditierung, drei Jahre vor Davids Geburt, einen Japaner namens Yukio Ito kennen gelernt, der ihm bald zum Freund wurde. Yukio bekleidete in der Regierung des Landes das Amt eines untergeordneten Rats für auswärtige Angelegenheiten. Damit trat er in die Fußstapfen seines großen Oheims, des Marquis Hirobumi Ito. Dieser genoss beim Kaiser allerhöchstes Ansehen, Der Marquis war gewissermaßen der Vater der japanischen Verfassung und, als Geoffrey dessen Neffen kennen lernte, schon zweimal Premier des Landes gewesen (und daraus wurde bald so etwas wie eine Marotte).
Sein Neffe Yukio teilte mit dem Vaterbruder die Liebe zu Europa und zum bushido, dem »Weg des Kriegers«. Die adlige Kriegerkaste der Samurai, der Hirobumi Ito seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr angehörte, folgte diesem Moralkodex, dessen tragende Säulen die religiöse Verehrung von Kaiser und Vaterland sowie stoische Ausdauer und Todesverachtung, Loyalität und Ehre waren. Als Yukio dann selbst Vater eines Knabens wurde, kaum drei Monate nach Geoffrey, machte dieser seinem englischen Freund das ungewöhnliche Angebot, die beiden Söhne gemeinsam im Budo unterrichten zu lassen. Da Oheim Hirobumi gerade wieder einmal Premierminister war, erbat Yukio von diesem höchstpersönlich, das populäre Jahrhundertkind in jenen Künsten auszubilden zu dürfen, die aus japanischen Knaben Helden formte.
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