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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Japaner, die dem Jahrhundertkind kleine Geschenke überbrachten: winzige Duftkissen mit Kräuterfüllung, filigran gefaltete Papierdrachen und Karpfen sowie himmlische Gestecke aus getrockneten Blumen.
    Einmal jedoch stand ein alter Mann in ärmlicher Kleidung, der mit seinem langen dünnen Schnurrbart wie ein chinesischer Weiser aussah, vor New Camden House. Er überraschte die Eltern mit einer kostbaren Gabe für das Kind, einer goldenen Kette aus zierlich verschlungenen Gliedern, die so kunstvoll war, dass sogar Maggy sich ihres Zaubers nicht entziehen konnte. Ungeachtet der für den kleinen Hals doch recht beachtlichen Länge legte sie das edle Stück sogleich ihrem Sohn an. Es geschah ganz geschwind und sollte doch ein Leben lang währen.
    Zur Zeit der Kirschblüte versiegte der Menschenstrom fast völlig, weil ein anderes Ereignis Nippons Aufmerksamkeit beanspruchte. Kronprinz Yoshihito hatte sich eine Gemahlin erwählt und nun nahte die Hochzeit. Anfang April wurden die rosafarbenen Blütenblätter vom Wind davongetragen und einen Monat später entschwand mit der feierlichen Vermählung der sechzehnjährigen Braut und ihres Prinzen die Pracht des höfischen Spektakels aus der Stadt. In Tokyo kehrte wieder der Alltag ein und nicht wenige erinnerten sich des kleinen David.
    Über ein Jahr lang kreuzten immer wieder Menschen vor den Pforten von New Camden House auf, um dort ihre Segenswünsche für das Jahrhundertkind abzugeben. Maggy beobachtete die Huldigungen durch das Fenster des Kinderzimmers mit zunehmendem Missbehagen. Einem einzelnen Menschen, gar einem so unfertigen wie ihrem Sohn, gebühre wohl kaum eine solche Verehrung, lautete ihre Begründung. Die Menschen sähen in dem Kleinen doch nur das Symbol einer besseren Zukunft, hielt Geoffrey dagegen und verwies auf die Worte des Präsidenten der Pariser Weltausstellung, der kürzlich in seiner Eröffnungsrede gesagt hatte: »Bald werden wir einen wichtigen Schritt in der langsamen Entwicklung der Arbeit auf Glück und Menschlichkeit hin getan haben.«
    »Ist es denn wirklich so etwas Schlimmes, wenn sie unseren David als Sinnbild für ›Glück und Menschlichkeit‹ ansehen, Schatz?« Geoffreys diplomatisches Geschick half seiner Frau über so manchen Stolperstein hinweg, der ihr in Davids ersten fünfzehn Lebensmonaten im Wege lag.
    Dann wurde der rosige Kirschblütenschleier erneut gelüftet und diesmal präsentierte er dem Land ein neues Kind: Kronprinzessin Sadako brachte am 29. April 1901 einen Sohn zur Welt. Die Geburt von Kaiser Meijis Enkel sollte Davids Leben stärker beeinflussen, als damals zu erwarten war. Am Hofe munkelte man zwar, der Thronerbe sei »beängstigend klein«, doch allen Gerüchten zum Trotz schaffte es Prinz Hirohito dennoch, David Camden die Last der allgemeinen Aufmerksamkeit abzunehmen.
     
     
    In Davids ersten Lebensjahren gab es nur wenige Signale, die darauf hinwiesen, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte, besser gesagt, dass es nicht so war wie alle anderen. Gleichwohl konnte sich Maggy später, wenn sie ihr Gedächtnis bemühte, noch sehr gut daran erinnern. Für die ersten Überraschungen sorgte er schon im zarten Säuglingsalter.
    Maggy stillte ihren Sohn, auch wenn das in vornehmen Kreisen immer mehr aus der Mode kam. Wie jedes andere Kind nutzte David seine Stimmbänder, um den Grad seines Hungergefühls anzuzeigen. Aber noch bevor Maggy ihm die Brust geben konnte, fing er plötzlich an aufgeregt zu strampeln und mit halb herausgestreckter Zunge zu nuckeln. Zuerst glaubte Maggy, ihr Sohn verfüge über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, könne sich vielleicht schon denken, was da passiere, wenn sie mit ihren Fingern an den Knöpfen der Bluse herumnestelte, aber das war es nicht. Sogar wenn sich Maggy hinter dem Baldachin seiner Wiege versteckte, hörte sie schon sein Schmatzen, sobald sie nur daran dachte, sich fürs Stillen bereitzumachen.
    Nun sagte man Säuglingen schon damals nach, sie hätten ein besonders inniges Verhältnis zu ihren Müttern. Maggy schob daher Davids ungewöhnliches Verhalten auf diese wissenschaftlich erforschte Tatsache. So musste sie sich nicht mit anderen Erklärungen belasten. Suda, die immer noch ein regelmäßiger Gast im Hause der Camdens war, hatte nämlich viel sagend gelächelt, als sie von Davids erstaunlicher Begabung hörte. Sie dürfe ja in der Gegenwart Maggys nicht mehr vom »Jahrhundertkind« sprechen, bemerkte sie knapp – womit sie das Unwort auch schon aufs Neue

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