Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Oheim Hirobumi stimmte zu.
Maggy war entsetzt. Einige Tage lang rang sie mit Geoffrey um die friedvolle Erziehung des Kindes. Ihre Einwände schienen bei dem Gatten Gehör zu finden. Aber dann vollzog sich an ihm eine seltsame Veränderung. Es begann in Davids erstem Sommer.
Der kleine Yoshiharu, Yukios Sohn, war noch keinen Monat alt, als am 20. Juni Klemens Freiherr von Ketteler ermordet wurde. Im diplomatischen Korps fand das Ereignis vor allem deshalb Beachtung, weil es sich bei Ketteler gewissermaßen um einen Kollegen handelte. Der deutsche Freiherr wurde in Peking auf offener Straße von dem Mitglied einer fremdenfeindlichen Bewegung ermordet, die man »die Boxer« nannte.
Geoffrey war schockiert. Sein Entsetzen nahm innerhalb von Minuten ein Ausmaß an, das selbst Maggy, die ohnehin für jede Form von Gewalt nur Abscheu empfand, ratlos machte. Im Februar hatten die Buren seinen Cousin Henry bei Bloemfontein im Oranje-Freistaat massakriert, aber nicht einmal da war Geoffrey so außer sich gewesen wie jetzt. Tagelang wirkte er nervös, seine Bewegungen fahrig. Maggy wollte schon einen Arzt kommen lassen, als sich der Zustand ihres Gemahls endlich besserte. Leider nur für wenige Tage.
Am 29. Juli fiel der italienische König Umberto I. einem Attentat zum Opfer. Als Geoffrey davon erfuhr, wurde er beinahe ohnmächtig. Seine nachfolgende Verstörtheit, die Maggy irgendwie überzogen vorkam, hielt diesmal noch länger an. Nur mit Mühe konnte sie ihm die Idee ausreden sich einen Leibwächter anzuschaffen. Nach Monaten der Ruhe erlitt Geoffrey dann im September 1901 einen weiteren Anfall übersteigerter Furcht.
Am sechsten des Monats hatte ein gewisser Leon Czolgosz auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten ein Attentat verübt. Acht Tage später erlag Präsident McKinley seinen Verletzungen. Als Geoffrey die Nachricht im fernen Japan zu Ohren kam, wurde er aschfahl. Drei Attentate, denen ein Diplomat und zwei Staatsoberhäupter zum Opfer gefallen waren, das sei zu viel, jammerte er Maggy die Ohren voll.
»Zu viel wofür?«, fragte die. Sie fürchtete, nicht ganz zu Unrecht, die seelische Verfassung Geoffreys könne erneut ernsten Schaden nehmen.
Ihr Mann blickte sie nur mit schreckgeweiteten Augen an.
»Aber Geoff…«
»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich nicht Geoff nennen!«, fiel dieser ihr erregt ins Wort.
»So beruhige dich doch, Schatz. In der Zeitung stand, die Anschläge gehen auf das Konto der Anarchisten. Natürlich ist das schrecklich, Geoffrey, aber es ist doch nichts Neues! Umbertos Mörder war auch ein Anarchist, ebenso wie früher schon diejenigen, die den französischen Präsidenten Carnot oder Österreichs Kaiserin Elisabeth umgebracht haben. Diese Menschen sind Fanatiker. Der Terror ist für sie ein legitimes Mittel, um die stützenden Elemente der Gesellschaft zu entfernen. So glauben sie jedem Individuum unbeschränkte Freiheit geben zu können. Für mich sind sie nur irregeleitete Utopisten. Warum machen dir diese Leute nur eine solche Angst?«
Geoffrey war nicht gleich im Stande seiner Frau zu antworten. Lange blickte er sie nur wie ein weidwundes Tier an, beinahe so, als hätte sie sich gerade zur Komplizin der Meuchelmörder erklärt. Als er endlich doch seine Sprache wieder fand, war seine Erwiderung kaum zu hören.
»Vielleicht, weil sie dadurch radikaleren Geistern den Weg ebnen könnten.«
Weggefährten
David und Yoshiharu waren unzertrennlich. Wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot, planten sie ihre Streiche gemeinsam. Sie bewegten sich dabei auf dem festen Grund japanischer Traditionen. Diese nämlich verordneten Eltern annähernd unbegrenzte Nachsicht ihren Kindern gegenüber. Bis zum Alter von zehn oder elf wurde den lieben Kleinen fast alles verziehen. Ja, man ermunterte sie sogar zu tun, was sie wollten. Sie durften Schabernack treiben, dickköpfig sein, sich wichtig machen, übermäßig laut lachen, übertrieben rasch weinen, sich tyrannisch oder feige verhalten. Spätestens mit zwölf wurden sie dann auf erwachsen getrimmt. In Japan bedeutete das, sich steif zu benehmen, Gefühle zu beherrschen und sich auch nicht den geringsten Schnitzer zu erlauben. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Da New Camden House ein weniger geeignetes Terrain für derart ungehemmtes Kindsein war, verbrachte David viel Zeit bei Yoshi, wie er seinen Freund Yoshiharu nannte. Im Haus des Grafen Ito konnte man herrlich herumtollen. Die
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