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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Unsichtbarkeit des Tennos schwer vereinbaren ließ.
    »Wir holen heute den Herzog von Connaught vom Bahnhof ab«, hatte Mutter gesagt. »Dort wirst du auch den kleinen Hirohito sehen.«
    »Kommt sein Opa auch mit?«, wollte David wissen.
    Mutter streichelte ihm die Wange. »Das ist doch gerade das Besondere an der Empfangszeremonie, Schatz. Kaiser Meiji zeigt sich fast nie in der Öffentlichkeit. Es ist eine große Ehre für den Herzog, dass der Tenno ihn gleich am Zug willkommen heißt.«
    »Darf ich den Kaiser etwas fragen?«
    Maggy runzelte die Stirn. »Du wirst dem Herzog einen Blumenstrauß überreichen und wenn er dich etwas fragt, darfst du ihm antworten. Aber den Tenno lässt du bitte in Frieden. Hast du mich verstanden?«
    David nickte ernst. Er hatte noch keine Ahnung, warum sich Könige und Politiker in der Öffentlichkeit so gerne mit kleinen Kindern zeigten. Gegen Maggys nun bald sechsjährigen Widerstand, bekleidete ihr Sohn noch immer den Rang eines Maskottchens des diplomatischen Korps. Ein Zeitungsartikel nannte ihn gar die »Inkarnation des zwanzigsten Jahrhunderts«. Damit war er prädestiniert aufseiten der britischen Botschaft den Kontrapunkt zum kleinen Hirohito zu setzen. David sollte dem britischen Thronfolger einen artigen Begrüßungsspruch aufsagen, ihm einen Strauß Blumen überreichen und sich gegebenenfalls von ihm auf den Arm nehmen lassen. Alles Weitere würde sich dann schon ergeben, hatte der Botschafter Seiner Majestät gemeint.
    Nun stand er also da auf dem Bahnhof und harrte an der Seite seiner Mutter der Dinge, die da kommen sollten. Er steckte in einem unbequemen braunen Tweedanzug und sah aus wie ein zu heiß gewaschener Dandy. Um die Station hatten sich zahlreiche Menschen versammelt. Ganz außen verlieh das gemeine Volk seiner Freude Ausdruck.
    Aus dem Stimmengewirr stieg ein Wort immer wieder auf: »Banzai! Banzai!« Zehntausend Jahre! Diese wünschten die Untertanen ihrem Tenno – selbstverständlich unter der gestrengen Kontrolle der Blick-Abwehr-Einheiten des Kaisers. Schon etwas näher am Bahnsteig befanden sich ausgewählte Pressevertreter, niederrangige Angehörige des Corps diplomatique sowie die weitläufige Verwandtschaft des Kaisers und der weisen Staatsmänner. Den inneren Zirkel bildeten der Botschafter des Vereinigten Königreiches in Begleitung des »Glückskindes« und seiner Eltern sowie der Tenno und Hirohito.
    David hielt einen blauen Ball in der Hand und starrte den Enkel des Kaisers mit offenem Mund an. Man hatte den kleinen Hirohito in eine Uniform gesteckt, die ihm eigens für diesen Anlass auf den zierlichen Leib geschneidert worden war. Nach Davids Meinung sahen weder der Tenno noch sein Enkel ausgesprochen göttlich aus. Irgendwie tat ihm der andere Junge sogar Leid, der da steif bis ins Gesicht hinter seinem Großvater stand, als hätte er ein Bambusschwert verschluckt. Vielleicht galt ja am Hof des Kaisers eine Ausnahmeregelung, die den Nachkommen des Tennos schon von Geburt an das Erwachsensein verordnete.
    Die Vertreter der britischen Botschaft und den Kaiser trennte ein Abstand, der hinreichend die Distanz zwischen einem normalen und einem göttlichen Wesen ausdrückte. Außerdem waren die zwei Gruppen beiderseits eines roten Teppichs angeordnet, der Tenno etwas dichter am vorherbestimmten Aussteigepunkt des Herzogs und der Botschafter etwas weiter davon entfernt. Während man in dieser Aufstellung dem Zug entgegensah, der sich aus irgendeinem Grunde verspätet hatte, kullerte plötzlich eine kleine blaue Kugel quer über den roten Teppich und stieß gegen die schwarzen Hochglanzstiefel des blassen Hirohito.
    Dieser Vorfall rief die unterschiedlichsten Reaktionen hervor: David kicherte; Geoffrey blieb fast das Herz stehen; Maggy lief rot an und glaubte im Boden versinken zu müssen; der Botschafter versprühte böse Blicke in Richtung seines Ersten Sekretärs; der Tenno tat so, als hätte er nichts bemerkt; die kaiserliche Leibwache stürzte sich auf die vermeintliche Bombe; Hirohito bückte sich interessiert und hob den Kautschukball vom Boden auf.
    Noch ehe die Beschützer der Majestäten das blaue Gummiding in Sicherungsverwahrung nehmen konnten, ereignete sich etwas Ungeheuerliches: Hirohito lächelte. Er hatte zuvor den Ball mit seinen Händen zusammengedrückt, worauf diesem ein alberner Piepston entwichen war. Der musste Kaiser Meiji davon überzeugt haben, dass an dem Ball nichts Bedrohliches war, denn auch er lächelte seinen Enkel

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