Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
chinesische Flotte vernichtet. Die Ergebnisse waren ermutigend, die Ausdauer belohnt worden. Japan hatte Muskeln angesetzt.
Kurz nach der Ermordung des amerikanischen Präsidenten McKinley wurde Geoffrey in einen Verhandlungsstab berufen, dessen Aufgabe in der Ausarbeitung eines Abkommens bestand, das Nippons neuer Stärke Rechnung tragen sollte. In dem fertigen Papier bescheinigten die Westmächte Japan im Jahre 1902 seine neue Stellung im Reigen der Weltmächte. Großbritannien ging sogar noch weiter: Als größte Seemacht seiner Zeit versprach es Japan Beistand, sollte das Inselreich während eines Krieges von einer dritten Macht angegriffen werden.
Im Februar 1904 wagte sich Nippon an eine neue Aufgäbe, die seiner hinzugewonnenen Größe Geltung verschaffen sollte. Es griff Port Arthur an. Außerhalb Japans nahmen manche Zeitungen den Ansturm des »gelben Zwerges« auf den »russischen Bären« nicht ganz ernst, aber das sollte sich schnell ändern. In nicht ganz sechzehn Monaten stutzte der Zwerg dem Bären an seinem mandschurischen Hinterlauf die Krallen. Mit der Seeschlacht von Tsushima errang Admiral Heihachiro Togo den »größten Sieg zur See seit Trafalgar«. Der Russisch-Japanische Krieg war ein blutiger Auftakt für das noch so junge Jahrhundert.
Damit das Ganze nicht nur wie eine unnütze Vergeudung von Menschenleben aussah, stellte man in der Mandschurei die chinesische Souveränität wieder her. Als Honorar für diesen Dienst annektierte Japan die den Russen entrissene Hafenstadt am Gelben Meer und errichtete ein Protektorat über Korea. Admiral Togo war der Held der Stunde. Seine Großtat hatte schließlich dafür gesorgt, dass der Geselle Großbritanniens jetzt den Meisterbrief ausgestellt bekam. Im Falle Togos bestand dieser in dem Order of Merzt, Englands angesehenster Auszeichnung. Kaiser Meiji sollte vom englischen König sogar noch hervorragender geehrt werden. Für ihn hatte Edward VII. den Hosenbandorden ausgesucht.
Der Überbringer dieser Ehrung musste sowohl vertrauenswürdig als auch dem Empfänger, einem leibhaftigen Gott, angemessen sein. König Edwards Wahl fiel auf seinen Sohn, den Herzog von Connaught. Und damit wären wir wieder bei Davids erstem »Erinnerungsknoten«.
Auf dem Shimbashi-Bahnhof herrschte dichtes Gedränge. Davids kleine Hand schmiegte sich eng in diejenige der Mutter. Das Gewimmel war ihm nicht geheuer.
Schon der Weg zum Bahnhof war zu einem abenteuerlichen Unternehmen geraten. Da Sam, dem Kutscher der Camdens, keine speziellen Instruktionen vorlagen, lenkte er die beiden Apfelschimmel des Gespanns auf dem bekannten Kurs zum Shimbashi. Dabei berührte er die Wegstrecke des Tenno. Von einem Augenblick zum nächsten gab es kein Durchkommen mehr, auch wenn Kaiser Meiji selbst noch nicht zu sehen war.
Daran würde sich für die meisten Schaulustigen auch nichts ändern, erklärte Geoffrey seinem Sohn. Die seltenen Dienstgänge folgten alle einem festgelegten Muster: Sobald sich der Kaiser nämlich durch die Straßen bewegte, beugte ein jeder ehrfürchtig den Kopf. Manche Leute täten das aus Aberglauben, weil sie fürchteten im Angesicht des göttlichen Tenno verglühen zu müssen, die Patrioten hielten es dagegen einfach für ungehörig, ein derart erhabenes Wesen anzublicken. Der Rest zügelte sich, weil er keine Scherereien mit der Polizei haben wollte, die akribisch jeden Versuch ahndete den Göttlichen mit »unverschämten« Blicken zu besudeln. Zu den Aufgaben der Ordnungshüter entlang der Strecke gehörte übrigens auch das Verschließen sämtlicher Fensterläden oberhalb des Erdgeschosses. So konnte niemand den Kaiser dadurch beleidigen, dass er auf ihn herabsah.
Für David, noch nicht einmal sechs Jahre alt, hörte sich das alles ziemlich staunenswert an. Selbst ihm leuchtete ein, dass ein Weiterkommen auf dem Weg des Tennos ebenso ausgeschlossen war wie das Überqueren desselben. Die Kutsche der Camdens musste also wieder kehrtmachen und sich eine andere Route suchen.
Über der Stadt lag der Geruch von Pferdedung und orientalischen Gewürzen – eine sehr eigenwillige Mischung. Während der Fahrt vorbei an Fußgängern und Rikschas machte der kleine David ein ernstes Gesicht. An den Erklärungen seines Vaters gab es einen unklaren Punkt, der ihn beschäftigte. Am Morgen – David hatte viel zu früh aufstehen müssen und sich dementsprechend quengelig gegeben – war er nämlich mit einem Versprechen geködert worden, das sich mit der verordneten
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