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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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später erfüllte sich seine Vorhersage. Das Fußgelenk nahm eine Farbe an, die so unnatürlich war wie die Gesichtsbemalung eines Kabuki-Darstellers.
    Hito ahnte als Einziger der ernst zuschauenden Schüler, wer sich hier einen geheimen Farbwunsch erfüllt hatte, aber seine Miene deutete nicht das geringste Vergnügen an.
     
     
    Einige Tage nach seinem Sieg über den Schwertmeister Yoneda streifte David gelangweilt durch New Camden House. Es war um die Nachmittagsstunde, die sonst seinen Budo-Übungen vorbehalten war. Auf dem Erkundungsgang kam er auch am Arbeitszimmer des Vaters vorbei. Die Tür, die im Erdgeschoss vom Entree abging, war nur angelehnt. Aus dem Zimmer klang ein Knarren und Klappern, das Davids Neugierde weckte.
    Vorsichtig schlich er zur Tür. Durch den Spalt sah er seinen Vater. Dieser drehte sich gerade vom Schrank weg, der hinter dem Schreibtisch stand, in der Hand eine sperrige lackierte Holzschatulle. Er öffnete sie und legte ein großes in Leder gebundenes Diarium hinein, ein Schreibbuch von der Art, wie es in manchen Häusern auslag, damit sich ihre Gäste darin verewigen konnten. Als der Deckel der mit Intarsien verzierten Kiste wieder zuklappte, trat David in den Raum.
    »Guten Tag, Papa.«
    Geoffrey erschrak. »David! Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet. Müsstest du nicht längst… Ach, ich vergaß! Meister Yoneda hat dich ja ›beurlaubt‹. Du hättest ihm diese Schmach wirklich nicht antun dürfen, mein Sohn.« Der Tadel klang eher wie das Lob eines stolzen Vaters, der den Sieg seines Sohnes mit klammheimlicher Freude genoss. Geoffrey kämpfte unübersehbar gegen ein Lächeln an. Mehr Bestätigung brauchte David gar nicht. Mit perfekter Unschuldsmiene beteuerte er: »Meister Yoneda wollte aus mir eine Marionette machen. Ich sollte immer die Arme heben, wenn er zuschlug. Das hat mir nicht besonders gefallen.«
    Davids Vater nickte verständnisvoll. In seinen Händen hielt er noch immer die Schatulle. Ihm war anzusehen, dass er sich ertappt fühlte. »Ich muss heute nicht mehr in die Botschaft. Hast du Lust nachher mit mir etwas zu spielen?«
    »Gerne«, antwortete David und ehe sein Vater sich wieder dem Schrank zuwenden konnte, um die geheimnisvolle Kiste darin zu verschließen, fragte er: »Schreibst du ein Tagebuch?«
    »W-was?«
    »Ich habe es von draußen gesehen. Es liegt da in dem Kasten, den du dir gerade so fest an die Brust drückst. Darf ich es mir mal ansehen?«
    »D-das ist kein Tagebuch«, stotterte der Vater. Und als ob er ahnte, dass er seinem Sohn nichts vormachen konnte, fügte er hastig hinzu: »Jedenfalls kein richtiges. Ich habe darin einige Erinnerungen aufgezeichnet, Episoden aus meinem Leben. Ich… ich möchte sie für dich bewahren.«
    »Aber warum darf ich sie dann nicht jetzt schon lesen?«
    »Weil du dafür noch zu klein bist, David.« Die Antwort kam schnell und bestimmt wie ein abschließender Bescheid. David spürte durchaus, hier an eine empfindliche Stelle gerührt zu haben, aber dann fügte sein Vater doch beschwichtigend hinzu: »Na ja, in manchen Dingen bin ich mir selbst im Unklaren. Irgendwie habe ich gehofft die Erlebnisse aus meiner Vergangenheit besser verstehen zu können, wenn ich meine Gedanken ordne und sie aufschreibe. Klingt das seltsam für dich?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete David sofort. Er fühlte, wie sich sein Vater ihm öffnete und das allein schon entschädigte ihn für den entgangenen Blick in das geheimnisvolle Buch.
    »Lass mir einfach noch etwas Zeit, David.« Geoffrey stellte die Schatulle nun wirklich in den Schrank zurück. Während er den Schlüssel herumdrehte und ihn sich in die Westentasche schob, bemerkte er noch: »Ich verspreche dir, dass du dieses Buch eines Tages lesen wirst, mein Sohn. Bis dahin mögen noch einige Jahre ins Land gehen, aber glaube mir, je länger dir diese Lektüre erspart bleibt, umso unbeschwerter wird dein Leben sein.«

 
    Der Schatten des Schwarzen Drachens
     
     
     
    Mit dem Sieg über den Gekken-Meister Yoneda hatte für David ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Seine Wahrnehmung blühte auf wie eine Seerose im Licht der Morgensonne, und das nicht nur in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten. Hatte er seine Umgebung früher noch mit dem manchmal begeisterten, dann wieder ehrfürchtigen Staunen eines kleinen Kindes erforscht, so begann er nun nach den Ursachen zu fragen. Er wollte wissen, warum sich die Dinge so verhielten, wie man sie sah. Vor allem aber interessierte ihn,

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