Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
weshalb vieles in Wirklichkeit anders war, als es den Eindruck erweckte. Das traf vor allem auf seinen eigenen Vater zu.
Seit dem Tag, als er ihn mit der hölzernen Schatulle im Arbeitszimmer aufgeschreckt hatte, war über ein Jahr vergangen. In dieser Zeit entwickelte David ein Auge für bestimmte Verhaltensmuster seines Vaters, die ihm früher nie aufgefallen waren: unmerkliche Gesten, eine überraschende Äußerung oder eine dunkle Wolke auf dem bärtigen Gesicht, die schon wieder verflogen war, ehe man ihrer so richtig gewahr wurde. Diese unauffälligen Signale bestärkten David in der Überzeugung unter dem Schatten eines düsteren Geheimnisses zu leben, das über der ganzen Familie schwebte.
Immer wieder gab es auch Anlässe, die Geoffreys innere Zerrissenheit ganz ungeschminkt zutage treten ließen. Als daher Maggy an einem Novembermorgen beim Familienfrühstück mit der Nachricht aufwartete, der chinesische Kaiser Kuang-hsu sei gestorben, veränderte sich sein Gesicht wie schon zuvor während der Audienz beim Tenno: Es wurde aschfahl, als versteinerte es vor den Augen von Ehefrau und Sohn.
»Ist er…?« Davids Vater hielt seine Gedanken zurück.
Aber die Mutter schien zu ahnen, was in ihm vorging, denn sie lächelte beruhigend und antwortete sogleich: »Nein, nicht, was du denkst. Er ist eines natürlichen Todes gestorben.«
Später, Geoffrey hatte sich mit seltsam schwerem Gang aus dem Haus begeben, fragte David die Mutter, was denn an der Nachricht vom Ableben des Kaisers für den Vater so bestürzend sei. Und als Maggy nur ausweichend antwortete, sagte er: »Mama, ich weiß, dass sich Papa vor etwas fürchtet. Es gibt etwas ganz Bestimmtes, das ihm Angst macht. Er schreibt es in ein Buch, das er in seinem Arbeitszimmer einschließt. Warum darf ich es nicht wissen? Hängt es mit mir zusammen? Manche Kinder verspotten mich wegen meiner weißen Haare und…«
»Nein, David«, fiel Maggy ihm ins Wort. Sie wirkte erschrocken. »Glaub doch so etwas nicht. Es hat bestimmt nichts mit dir zu tun. Ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen, aber dein Vater will mit niemandem über sein Geheimnis sprechen. Selbst mit mir nicht. Vielleicht hat er als Kind einmal mit ansehen müssen, wie ein Mensch ermordet wurde, und fürchtet sich deshalb so übertrieben vor Attentaten. Das würde erklären, weshalb er dich unbedingt in der Kunst der Selbstverteidigung ausbilden will.«
»Aber wer sollte uns etwas antun wollen, Mama?«
»Ich weiß es nicht, David. Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Nur eines ist mir bisher aufgefallen: Immer wenn ein Mensch ermordet wurde, der – wie soll ich mich ausdrücken? –, der für die feste Ordnung in seiner Heimat stand, erschütterte das deinen Vater ganz besonders. In den letzten Jahren sind seine Reaktionen immer heftiger ausgefallen. Als Anfang Februar letzten Jahres der portugiesische König Karl I. und Kronprinz Ludwig Philipp durch die Karabinerkugeln eines Meuchlers hingestreckt wurden, konnte er sieben Tage lang nicht in die Botschaft gehen. In den folgenden drei Wochen war er ein einziges Nervenbündel. Selbst beim Tod von Königin Victoria, ein Jahr nach deiner Geburt, war seine Reaktion nicht so heftig gewesen. Für mich ist sein Verhalten genauso schleierhaft wie für dich, mein Schatz. Ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen, David, aber…«
Maggy nahm ihren Sohn in die Arme. David spürte ihre Hilflosigkeit und mit einem Mal wollte er seine Mutter nur noch trösten.
»Dann werde ich Papa beschützen. Wir müssen ihm beide helfen, damit er sich nicht länger zu fürchten braucht«, sagte er.
Maggy schluchzte. »Ja, mein Schatz. Bei Gott, das müssen wir.«
Nachdem Davids Strafzeit bei Meister Yoneda abgelaufen war, stürzte er sich mit Hingabe wieder in seine Schwertkampfausbildung. Auch im ju jutsu vervollkommnete er seine schon beachtlichen Fähigkeiten, die sich zu mindestens zwei Dritteln auf seine Gabe der Sekundenprophetie stützten – den Rest steuerte die enorme Gelenkigkeit seines so schlaksig anmutenden Körpers bei. Davids Gelöbnis, seinen Vater zu schützen, war mehr als das kindliche Gerede eines Achtjährigen. Er hatte es damit ernst gemeint.
Das Jahr 1909 begann, wie das vorausgegangene geendet hatte: weitgehend friedlich. Keine neuen Hiobsbotschaften erschütterten Geoffreys seelisches Gleichgewicht, einzig das immer stärkere Wettrüsten zur See bereitete ihm etwas Sorge. Großbritannien hatte mit der Dreadnaught eine neue Klasse
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