Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Kaiser von Japan eine glückliche Ausnahme. Nur zu seinem langjährigen Biologielehrer Dr. Hirotaro Hattori pflegte er ein ähnlich inniges Verhältnis. Doch dazu später mehr.
Von der Öffentlichkeit blieb die Freundschaft der beiden Jungen weitgehend unbemerkt, da David den Palast nie durch die Vordertür betrat oder verließ. Die Treffen hatten einen konspirativen Charakter, der die Knaben nicht störte, sondern eher ihre Phantasie beflügelte. Mal verbrachten sie ihre gemeinsame Zeit mit Spielen, die nicht immer den anspruchsvollen Anforderungen des gestrengen Zuchtmeisters Maruo entsprachen, dann wieder wanderten sie einfach nur durch den Park und führten miteinander erstaunlich ernste Gespräche.
Hirohito zeigte sich hauptsächlich an allem interessiert, was unjapanisch war. Wie die süßen Kirschen aus Nachbars Garten pflückte er diese verbotenen Früchte aus Davids Mund. Der erzählte im wahrsten Sinne des Wortes von Gott und der Welt. In religiösen Fragen stützte er sich vor allem auf das, was seine Mutter ihm in die Wiege gelegt hatte, in den weltlichen Themen konnte er sich schon bald auf seine Lehrer von der englischsprachigen Schule berufen. Außerdem schwärmte er von den Büchern, die er las, und vor allem von England, jenem »Heimatland«, das er nie selbst gesehen hatte und das ihm vielleicht gerade deshalb wie ein ferner Garten Eden erschien. Tatsächlich mochten diese verklärten Schilderungen der wahre Grund gewesen sein, weswegen Hirohito später ein Schiff besteigen und England besuchen sollte, ungeachtet dessen, was die Schwarzen Drachen davon hielten.
Von dieser Geheimgesellschaft wurde im Übrigen zu Hause lange nicht mehr geredet. Ab und zu versuchte David das Gespräch bei Tisch auf dieses für ihn so interessante Thema zu lenken, aber sein Vater schmetterte es jedes Mal ab, beinahe genauso rüde, wie er reagierte, wenn man ihn Geoff nannte.
Abgesehen von diesem geheimnisvollen Benehmen und den sporadischen Stippvisiten im Palast beschäftigten David aber auch ganz alltägliche Dinge, Yoshi kam mit sechs auf die Adelsschule Gakushuin, David genoss schon ein Jahr länger die Früchte des staatlich verordneten Bildungswesens (alle Kinder englischer Diplomaten, Ingenieure, Offiziere und sonstiger Ansässiger besuchten eine eigens für sie eingerichtete Ausländerschule). Jetzt konnten die beiden Freunde also nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringen. Sie wurden »auf das Leben vorbereitet«, was immer das heißen mochte.
Für Yoshiharu musste diese Prozedur erheblich anstrengender sein als für David, Das jedenfalls war seine Einschätzung der Verhältnisse am Gakushuin. Die wichtigste Fertigkeit, die den Kindern an japanischen Schulen beigebracht wurde, war das Stillsitzen. Obwohl auch englische Lehrer ziemlich steif sein konnten, wurde hier die Bewegungslosigkeit in ihrer höchsten Vollendung erlernt. Die Lehrer trugen den Stoff vor und die Schüler saßen dabei auf dem Boden und lauschten in ehrfurchtsvoller Starre (nur bei den Schreibübungen wurde manchmal eine Ausnahme gemacht), Rektor des Gakushuin war damals Graf Maresuke Nogi, ein alter Recke, der in vielen Schlachten versucht hatte sein Leben für den Kaiser zu opfern. Mehrmals sei ihm das auch fast gelungen, versicherte Yoshi glaubhaft. Zahllose Pfeile und Schwerter, Bajonette und Schrapnells hätten eine Ode des bushido auf Nogis Körper geschrieben. Und dieser »Weg des Kriegers« war es auch, den der alte Soldat seinen naseweisen Schützlingen anbefahl.
Jeden Morgen vollzog Nogi eine Zeremonie, an der sämtliche Schüler teilnehmen mussten. Eine halbe Minute lang verbeugten sich alle Anwesenden in Richtung Kaiserpalast – das war das Ritual der »Verehrung aus der Entfernung«, wie Yoshi erklärend anmerkte – und dann rezitierten die Schüler den kaiserlichen Erziehungserlass, der ihnen zuvor eingetrichtert worden war. Hiernach wurde miteinander die Nationalhymne gesungen.
»Was ist euer höchstes Streben?«, beschloss Nogi den Ritus.
»Für den Kaiser zu sterben!«, antworteten die Schüler im Chor.
David kannte zwar auch die Lobhudelei auf den König, das englische Gegenstück zum Tenno, aber seiner Mutter verdankte er ein eher distanziertes Verhältnis zu jeder Art von Menschenverherrlichung. Yoshi genoss sein aufrichtiges Mitgefühl. Noch war für David der Tag nicht gekommen die treibende Kraft hinter derartigen Übungen zu durchschauen und ihren wahren Sinn zu erfassen. Aus Kindern, die man im
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