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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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riesiger Kriegsschiffe in Dienst gestellt, der bald weitere folgten, und nun kündigte die Kaiserliche Werft Wilhelmshaven und die Werft A. G. Weser in Deutschland noch größere Liner an. Über einhundertsiebenunddreißig Meter sollten die neuen deutschen Linienschiffe Nassau und Westfalen messen. »Wo wird das nur hinführen?«, murmelte Geoffrey über seinem Morgenblatt.
    David dagegen zollte den immer neuen Triumphen der Technik seine Bewunderung. Welcher Junge tat das nicht? Die Brüder Wright bauten Flugmaschinen in nie geahnter Perfektion. Man konnte mit ihnen im dreidimensionalen Raum richtig lenken! Wie zur See, so hielten die Deutschen auch in der Luft mit Größe dagegen. Ihre fliegenden Würste, die sie Zeppeline nannten, brachen einen Entfernungsrekord nach dem anderen.
    So hatte David die unbekannte Last, die seinen Vater bedrückte, schon beinahe vergessen, als im Oktober Ereignisse ihren Lauf nahmen, deren volle Bedeutung er erst Jahre später überblicken sollte.
    Der Earl of Camden bekam eine Einladung zum kaiserlichen Kanname-Fest. Nach shintoistischem Brauch musste der Tenno in jedem Herbst den ersten neuen Reis darbringen, um die Götter auch für das kommende Jahr gnädig zu stimmen. Obgleich Ausländer das eigentliche Ritual nicht beobachten durften, bot es doch Anlass für allerlei Feierlichkeiten. Geoffrey war zu einem Empfang ins japanische Außenministerium geladen worden. Es wurde um Respektierung der Tradition des Gastgebers gebeten – die Ehefrauen mussten also zu Hause bleiben.
    Für Geoffrey war es anfangs ein Empfang wie jeder andere. Diplomaten der verschiedensten Nationen standen oder saßen in den Festräumen herum, führten leise Gespräche von mehr oder minder staatstragender Bedeutung oder sprachen den einheimischen Delikatessen zu. An diesem Abend war der Cutaway obligatorisch. In diesem schwarzgrauen Rock mit seinen langen, abgerundeten Schößen sahen alle Herren irgendwie gleich aus. Dazwischen leuchteten die Geishas in ihren seidenen Kimonos wie Lotusblüten in einem See dunkler Algen. Sie übernahmen die Rolle der Gastgeberinnen, sorgten sich um das leibliche Wohl der Diplomaten, pflegten Konversation und wehrten Annäherungsversuche ab.
    Geoffrey unterhielt sich gerade mit dem belgischen Baron d’Anethan, der sich nach dem Befinden Davids und Margrets erkundigt hatte, als sich von der Seite Yukio Ito näherte. Yukio wartete in diskretem Abstand, bis der Doyen des Corps diplomatique sich empfahl und Geoffrey seinem Freund überließ.
    »Ich wüsste nur zu gerne, warum die Diplomaten immer ein Fest vortäuschen müssen, wenn sie miteinander palavern wollen«, stöhnte Geoffrey in gespielter Erschöpfung.
    Yukio lächelte unauffällig. »Unsere matsuri, die religiösen Feste, waren früher das seidene Band, das unsere Dorfgemeinschaften zusammengehalten hat. Gäbe es sie nicht, wäre der Reisanbau unmöglich gewesen. Und ohne diesen hätten die Menschen hungern müssen.«
    »Wie immer hast du natürlich Recht, mein Freund. Ohne diese langweiligen Empfänge wäre wohl so manches Abkommen nicht zustande gekommen. Allerdings, was das Hungern betrifft – also wenn ich mich hier umsehe, sind wir doch wohl alle ziemlich weit entfernt davon.«
    »Du klingst, als wüsstest du, wovon du sprichst.«
    Geoffreys Blick verklärte sich. »Auch wenn du es mir nicht glauben magst, aber ich habe tatsächlich einmal hungern müssen. Doch wie sagte unser großer Dichter Shakespeare so schön? ›Lasst die Erinnerung uns nicht belasten mit dem Verdrusse, der vorüber ist.‹ Hat es einen bestimmten Grund, warum du deine Gäste für mich vernachlässigst, Yukio?«
    »Du bist auch mein Gast, Geoffrey-kun. Aber du hast Recht, ich wollte dich meinem Oheim vorstellen.«
    »Doch nicht etwa…?«
    »Ganz richtig, dem ehrenwerten Prinzen Hirobumi Ito.«
    Geoffrey erinnerte sich: Der Marquis war zwei Jahre zuvor in einen Adelsstand befördert worden, der dem eines Herzogs oder Prinzen entsprach. »Wo ist denn dein erlauchter Oheim?«
    Yukio deutete mit der Hand zu einem Durchgang hin. »Dort drüben im Raucherzimmer.«
    Der den Rauchern vorbehaltene Raum erinnerte Geoffrey an London im Winter: Die Luft war zum Schneiden und man sah die Hand vor Augen nicht. Irgendwie gelang es den beiden Jungdiplomaten dann aber doch, den vielmaligen Premierminister aus den blauen Rauchschwaden zu fischen. Geoffrey kannte Hirobumi Ito von anderen Empfängen, allerdings war er ihm nie persönlich vorgestellt worden.

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