Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Schuhe vor dem Zimmer ausgezogen, weil die Tatami-Matten nur barfüßig oder auf Strümpfen betreten werden durften. An den Wänden hingen Rollbilder mit bunten Aquarellzeichnungen. Hier und da standen einige überdimensionale Blumenvasen herum, ansonsten wirkte der Raum sehr karg. Spielzeug war nirgends zu sehen.
»Bist du gerne in diesem Palast?«, erkundigte sich David, nachdem er den Raum ausführlich inspiziert hatte.
»Im Landhaus vom Grafen Kawamura war es schöner.«
»Mein Vater ist auch ein Graf«
»Sumiyoshi Kawamura war immer nett zu mir. Und zu Chichibu auch.«
Letzterer war Hirohitos Bruder. David erinnerte sich. »Ich habe keinen Bruder. Aber einen Freund! Er heißt Yoshi.«
Und so ging die Unterhaltung des Vier- und des Fünfjährigen noch eine ganze Weile weiter. David erzählte von Yoshiharu und wie sie gemeinsam in der Rolle der Ronin fast jede Woche gefährliche Abenteuer bestanden und Hirohito berichtete von seinem kleinen Bruder Chichibu, obwohl erst drei schon ein richtiger Wildfang, von dem er einfach nur »Hito« genannt wurde. Ob es David gefallen würde, ihn auch Hito zu nennen, fragte der traurige Junge mit einem Mal.
»Gerne, Hito«, antwortete David. Er war noch zu jung, um sich von jener Scheu den Blick verkleistern zu lassen, die alle Erwachsenen jedes Mal befiel, wenn sie einem Angehörigen der Kaiserfamilie gegenübertraten. Für ihn war Hirohito hauptsächlich ein Junge in einer wenig beneidenswerten Lage. Kaiser Meijis Enkel erinnerte ihn an einen Kanarienvogel in einem goldenen Käfig und es bereitete ihm Freude, wenn er die Tür zu diesem Gefängnis wenigstens für eine kurze Zeit aufstoßen und seinem neuen Freund die Welt der Kinder draußen zeigen konnte.
Die beiden verstanden sich hervorragend. David erzählte ausführlich von seinem Zuhause, das unweit des westlichen Tores lag, durch das sie in den Palastbezirk eingelassen worden waren. Hito stellte immer wieder Fragen: Was tut dein Vater? Was deine Mutter? Was ist dein Lieblingsessen? Ob David beim letzten koi nobori, dem Knabenfest, auch einen Papierkarpfen bekommen habe. Und dann fragte er: »Wie hast du den Ball golden gemacht?«
David hob die Schultern. »Ich wollte gerne dein Lachen sehen.«
Hirohito sah den englischen Jungen eine Weile lang nachdenklich an. »Mehr hast du nicht getan?«
»Ich habe gesagt, dass er golden ist. Ich glaube, ich wollte ihn auch für dich so machen. Also wurde er es.«
Die Erklärung schien den zarten Kaiserenkel zu befriedigen. Er fragte nie mehr nach der Gabe des Farbgebens.
Während die Kutsche der Camdens durch die Gassen von Kojimachi und Ichiban-cho heimwärts zuckelte, beschäftigten David ernste Gedanken. Nein, er grübelte weniger über seine zwei Stunden mit Hito nach – wie hätte er auch ahnen können an diesem Tag den Keim zu einer langjährigen Freundschaft gelegt zu haben? –, sondern über den auffälligen Stimmungswechsel seines Vaters.
»Hast du Angst?«, fragte er den Vater unvermittelt.
Geoffrey zuckte zusammen. Er saß auf der Bank gegenüber von Maggy und seinem Sohn. »Was hast du gesagt?«
»Kaiser Meiji hatte Angst, als er von dem Schwarzen Drachen gesprochen hat. Ich habe es gemerkt.«
Geoffrey sah seinen Sohn mit großen Augen an, ohne etwas zu erwidern.
»Du kennst den Mann auch, Papa. Den Toyama-Kopf von dem Drachen. Warum fürchtest du dich vor ihm?« David fühlte, wie seine Hand von derjenigen Maggys umschlossen wurde. Bestimmt war auch seiner Mutter nicht entgangen, wie sehr dieser Name den Vater aus der Fassung gebracht hatte.
»Kennen ist vielleicht nicht das richtige Wort«, antwortete der ausweichend. »Aber diese unselige Geschichte liegt lange zurück, David. Wenn ich sie dir erzählen würde, dann hättest du nur schlechte Träume. Vielleicht irgendwann einmal, wenn du größer bist.«
Der Besuch im Kaiserpalast war ein weiterer jener »Erinnerungsknoten«, an denen David sich noch Jahre später bis in die frühe Kindheit zurückhangeln konnte. In den folgenden Jahren hatte er noch oft über die unzähligen Eindrücke dieses Tages nachgedacht.
Seine Wirkung auf Hirohito war von bleibender Dauer. Immer wieder verlangte der Kaiserenkel nach Seiki-kun (er hatte schon bald nach ihrem ersten Treffen Davids Spitznamen übernommen). Manchmal vergingen Monate, bevor sich die beiden Jungen wieder sahen, aber sie blieben Wegbegleiter, die sich nie aus den Augen verloren. Ihre unverbrüchliche Freundschaft blieb für den späteren
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