Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
höchst unmoralisch, sondern auch ungesund. Diese Erkenntnis hatte sich David bisher noch nicht erschlossen, aber das änderte sich nun. Ihm war ganz übel bei dem Gedanken, seine vertraute Umgebung zu verlieren. Zwar wich dieses Unwohlsein schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit einer erwartungsfrohen Abenteuerlust, aber dann klaffte ein neues Dilemma vor ihm auf: Wie sollte er seinen Eltern beibringen, dass er Yoshi mitnehmen würde? Der hatte sich nämlich spontan bereit erklärt, Tokyo für einen längeren Bildungsaufenthalt im fernen Europa zu verlassen (allerdings ohne zuvor seine Eltern zu konsultieren).
Das heimliche Anzapfen der elterlichen Privatsphäre hatte für David noch einen betrüblichen Nebeneffekt: Er wurde von seiner Ungeduld beinahe umgebracht. Woche um Woche strich ins Land, ohne dass sich etwas Neues ergab. Er traute sich auch nicht seine Mutter nach Vaters Versetzungsgesuch zu fragen. Dadurch wäre seine Indiskretion womöglich aufgeflogen. Als dann in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 der englische Luxusdampfer Titanic mit einem Eisberg kollidierte und in seinem »unsinkbaren« Leib hunderte mit in die Tiefe riss – weitere Männer, Frauen und Kinder waren in den eisigen Fluten des Nordatlantiks erfroren oder ertrunken –, verpuffte Davids Reiselust fürs Erste.
Für den Durchschnittsjapaner rangierten derartige Katastrophen ziemlich weit unten auf der nach oben hin offenen Schrecklichkeitsskala, jedenfalls solange keine Landsleute zu Schaden kamen. Etwa ein Vierteljahr später sollte Nippon jedoch von einer niederschmetternden Nachricht erschüttert werden, deren Tragik für das Land in jeder Hinsicht maßlos war. Der Kaiserpalast meldete Anfang September den Tod eines Gottes. Kaiser Mutsuhito, der Mikado, wie sein Titel in der Amtssprache hieß, war gestorben. Damit endete die Meiji-Zeit, die Ära der »Erleuchteten Regierung«.
Man hatte seit einiger Zeit gewusst, dass der Meiji Tenno krank daniederlag. Zu tausenden waren die Menschen nach Tokyo geströmt, vor dem Kaiserpalast auf die Knie gesunken und hatten für die Genesung ihres geliebten Monarchen gebetet. Als dann klar wurde, dass Amaterasu und die übrigen Shintogötter andere Pläne mit ihrem Spross hatten, entlud sich das Gefühl des Volkes in einem erschütterten Aufschrei der Trauer. Selbst Geoffrey hielt sich in dieser Zeit mit seinen Unkenrufen zurück. Ein-, zweimal erwähnte er beiläufig, dass Arsen in kleinen Dosen verabreicht auch das langsame Hinsiechen eines Menschen bewirken könne, aber er verfolgte diese These nie mit jener Hartnäckigkeit wie im Falle des englischen Königs Edward VII. Er war einfach nur erschüttert. Maggy vergoss Tränen echter Anteilnahme. Und David bedauerte den Abgang eines Märchenkönigs, der sich nie so hatte nennen dürfen.
Mit Kaiser Meiji war ein Mann gestorben, der sein Land aus dem Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert geführt hatte. Aus dem kindlichen Nachahmer, der mit seinen Bambusfahrrädern westliche Ingenieure anfangs noch zum Lächeln gebracht hatte, war der Herrscher einer nicht zu unterschätzenden Imperialmacht geworden. David hatte den Initiator dieses beängstigenden Fortschritts als einen Menschen kennen gelernt, der offen war für die Welt außerhalb seines Reiches, der Gedichte schrieb und sogar lachen konnte. Auch deshalb trauerte er auf seine eigene stille Weise um Hitos Großvater. Am 14. September, dem Tage nach dem prunkvollen Staatsbegräbnis des Tenno, erhielt David eine Nachricht vom Hof, ein gerolltes Dokument aus Reispapier mit wunderschönen Schriftzeichen. Wenigstens daran hatte sich nichts geändert.
Es handelte sich um eine Einladung von Hito. Oder eher um einen verzweifelten Hilferuf. Wieder einmal hatte der traurige Junge darauf bestanden, seinen weißhaarigen Freund in den Palast schmuggeln zu lassen. Dort traf David schon einen Tag später auf einen Knaben, dem wohl nichts, aber auch gar nichts ein Lachen hätte entlocken können. Selbst tausend goldene Bälle nicht.
»Es tut mir so Leid!«, sagte David, nachdem die beiden sich begrüßt hatten.
»Vielen Dank, David-kun.«
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Ja. Du kannst mir zuhören.«
Alsbald saßen die beiden ernsten Knaben auf Matten aus Reisstroh, in der Hand eine Schale mit Tee, und sprachen, wie Kinder es sonst nur selten tun. Hirohito berichtete von dem Schmerz, den er der Welt nicht zeigen durfte. Nicht nur sein Großvater war von ihm gegangen, sondern noch ein
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