Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
anderer Mensch, den er beinahe genauso geliebt hatte. David war schockiert, auch ohne zu wissen, von wem Hito sprach. Er ahnte es zumindest, kannte er doch Yoshis Schilderungen von der Welt des Gakushuin.
    »Am Abend vor der Beisetzung meines Großvaters hat mich Nogi-san zu sich gerufen«, berichtete Hito mit leiser Stimme.
    »Der General? Euer Rektor?«
    »Ja. Nogi-san saß vor mir auf dem Tatami. Zwischen uns lag die kalligrafische Arbeit, mit der ich mich zuvor beschäftigt hatte. Wir haben uns darüber unterhalten. Er hat mich hier und da gelobt, mir gezeigt, wo ich mich noch verbessern kann. Dann hat er sich meiner Kenntnisse in den verschiedensten Fächern vergewissert. Es war eine Art Prüfung. Heute weiß ich, dass es seine Abschlussprüfung für mich war.«
    Ein Kribbeln lief über Davids Rücken. Seine Befürchtungen gewannen immer mehr an Substanz. »Ich denke, er ist gerade erst aus England zurückgekehrt. Warum also eine Abschlussprüfung?«, fragte er, um Hitos Erzählung wieder anzustoßen.
    »Ich gab Nogi-san alle Antworten, die er hören wollte. Kein einziges Mal habe ich mich bewegt, um mir einen bequemeren Sitz zu verschaffen.«
    »Du wolltest ihn nicht enttäuschen oder sogar kränken.«
    Hito nickte. »Ich wusste, dass du mich verstehen würdest, David-kun.«
    »Und was geschah dann?«
    »Nogi-san hat genickt.«
    »Du meinst, er hat eure Zusammenkunft beendet?«
    »Ja. Aber vorher sagte er noch etwas zu mir, das ich niemals vergessen werde: ›Ich bin nicht unzufrieden mit den Fortschritten, die Sie während meiner Abwesenheit gemacht haben. Bitte vergessen Sie nicht, dass ich, auch wenn ich nicht physisch zugegen bin, Anteil an Ihnen und Ihrer Arbeit nehme. Ich behalte Sie stets im Auge und bin immer um Ihr Wohl besorgt. Arbeiten Sie fleißig, zu Ihrem eigenen Besten und zum Besten Japans.‹ Er verneigte sich noch einmal. Ich habe mich respektvoll verbeugt und das Zimmer verlassen.«
    »Wusstest du, warum er so zu dir gesprochen hat?«
    »Ich hatte eine Ahnung und hoffte, mein Gefühl würde mich trügen. Aber Nogi-sans Verehrung für meinen Großvater war leider stärker als die Wünsche eines Knaben. Der General ist nach unserer Unterredung nach Hause gegangen, wo ihn seine Frau bereits erwartete. Sie nahmen ein Bad und legten dann ihre Festgewänder an. Nachdem sie sich vor der tokonoma, der Nische mit Meijis Bild, niedergelassen und einen Becher Sake getrunken hatten, zog Nogi-san einen Dolch und erstach seine Frau. Anschließend nahm er sein wakizashi, sein Kurzschwert, und schlitzte sich im rituellen seppuku den Leib auf.«
    Es entstand eine längere Pause, in der sich die beiden Jungen reglos gegenübersaßen. David konnte in Hitos dunklen Augen die tiefe Niedergeschlagenheit sehen, obwohl das Gesicht des Prinzen keine Regung zeigte – Hirohito war ein gelehriger Schüler. Wie sein Lehrer Nogi befolgte er jenen Verhaltenskodex, auf dem sich die Tradition Nippons gründete. David kannte zwar den Weg, der zu solchem Handeln führte, so wie jemand die Route durch ein finsteres Moor kennen mag, aber dennoch schauderte ihn davor, auch nur einen Fuß auf diesen trügerischen Grund zu setzen.
    In diesen Minuten brach in ihm etwas entzwei. Er begann alles und jeden zu hassen, der einem Menschen verbot Gefühle zu zeigen. Er fing an diejenigen zu verabscheuen, die sich über ihresgleichen stellten und Ergebenheit bis in den Tod verlangten, etwas, das seiner Ansicht nach nur dem Allmächtigen zustand. Zwar waren bis zu jenem Tag im September seines dreizehnten Lebensjahres Könige und Kaiser für ihn auch nur Menschen gewesen, aber doch immerhin Personen, die durch ihren Glanz und ihren Hofstaat über der Masse des Volkes standen, die Bewunderung verdienten. Im Augenblick fühlte er nur Verachtung. Mit welchem Recht erwartete dieser alte Erzähler von Gedichten den Tod auch nur eines seiner Untertanen?
    Es gelang David nicht so gut, seine Gefühle zu verbergen, wie Hito. Mühsam beherrscht fragte er: »Was hast du getan, nachdem man dir die Nachricht überbrachte?«
    »Ich habe sie mir angehört.«
    »Mehr nicht? Ich spüre doch deinen Schmerz und deine Verzweiflung, Hito. Hast du nicht einmal geweint?«
    »Die Tränen eines Mannes dürfen nur an der Innenseite seiner Seele herabrinnen.«
    »Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Etwa Nogi? Der…« David blickte zur Tür hin, wo die Leibwächter standen, ihre Körper wie unter Zuckerguss erstarrt, aber ihre Augen geweitet vor Schreck über

Weitere Kostenlose Bücher