Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
die respektlosen Reden des europäischen Jungen. »Entschuldige.«
»Es ist gut, David-san. Wenn ich deinen Zorn sehe, ist es, als wäre ich es, der seiner Wut freien Lauf lassen kann. Das tut mir gut.«
David sah Hito wieder eine Zeit lang schweigend an. Dann fragte er: »Könnte es sein, dass General Nogi und seine Frau nicht von eigener Hand getötet wurden?«
Nach japanischer Tradition darf das Land auch nicht einen Tag unbeaufsichtigt bleiben. Deshalb wurde unverzüglich Kronprinz Yoshihito zum neuen Mikado ernannt, auch wenn seine eigentliche Inthronisierung erst wesentlich später stattfinden sollte. Das war eine interessante Entscheidung. Über Hirohitos Vater kursierten nämlich allerlei Gerüchte im Land, die wohl nicht nur bei David leise Zweifel weckten, ob er ein Kaiser von Mutsuhitos Kaliber werden könne. Dabei war sein in immer kürzeren Zyklen aufquellender Schwachsinn noch das geringste von allen Übeln.
Der angehende Tenno hatte sich zu einem Gecken und Dandy entwickelt. Getreu dem Vorbild von Kaiser Wilhelm II. lief er mit einem gewachsten und gezwirbelten Schnurrbart durch die Gegend. Wenn man ihm erlaubte sich zu zeigen, dann bevorzugte er die Präsentation auf einem Pferderücken. Konnte er sich dann noch in einer Uniform zur Schau stellen, wie sie die Totenkopfhusaren trugen, dann blühte er richtig auf. Gerne verteilte er auch Hiebe mit seiner Reitpeitsche an alle, die ihm missfielen (und das waren die meisten). Er litt zudem an unerklärlichen Lachanfällen, die ebenso unvorhersehbar in Erscheinung traten wie sein unbezähmbarer Jähzorn. Seit dem Tode Hirobumi Itos befielen ihn auch immer häufiger Schübe von Todesangst, die nicht selten in einem peinlichen Tränenfluss endeten. Davids neue Einstellung zum Club der Potentaten wurde durch die Gerüchte über Hitos Vater nicht gerade ausgehöhlt.
Während die feierliche Inthronisierung des neuen Kaisers auf sich warten ließ, frischten die Clans der Choshu und Satsuma ihre alten Fehden wieder auf. In der Botschaft hatte Geoffrey daher alle Hände voll zu tun die widerstreitenden politischen Kräfte im Auge zu behalten, Kontakte zu knüpfen und geheime Verhandlungen zu führen. So mancher vermeintlich einflussreiche Mann dieser Tage entpuppte sich als Papiertiger. Immer häufiger fiel in vertraulichen Gesprächen der Name Mitsuru Toyamas. Als Geoffrey dann Ende 1912 den diskreten Hinweis erhielt, Toyama ziehe Erkundigungen über ihn ein, tat er alles, was in seiner Macht stand, um seine Versetzung nach Wien voranzutreiben.
Zwei Tage nach Davids dreizehntem Geburtstag folgten die Camdens einer Einladung der Itos. In Japan war dies der letzte Tag des Neujahrsfestes o-shogatsu. Gemeinsam verbrachte man den Abend in geselliger Runde. Es war schon fast ein Familienfest gemäß englischer Tradition; nach japanischer Sitte hätten wohl nur die Männer zusammengesessen und sich von Geishas verwöhnen lassen. Für David würde dieser Abend aus zweierlei Gründen unvergesslich bleiben. Der erste war ein Geschenk, das sein Knabenherz vor Freude hüpfen ließ.
Yukio hatte sich diese Überraschung ausgedacht, bei der es sich um ein japanisches Langschwert handelte. Yoshis Vater nannte es katana. Der Griff der Waffe war mit Rochenhaut und flachen Bändern kunstvoll umwickelt und die leicht gebogene Klinge so scharf, dass sie eine Feder im Fallen hätte zerteilen können. Die Scheide des Katana-Schwertes bestand aus schwarz lackiertem Holz, ein gelbbraunes Seidenband diente zur Befestigung am Gürtel. David war selig. Nur die mahnende Fürsprache seiner Mutter verhinderte, dass seiner Klinge einige Zierkürbisse zum Opfer fielen, die ausgesprochen provokant aus einer Obstschale zu dem frisch gekürten Nachwuchs-Samurai herüberlinsten.
Die zweite Ursache, der dieser Abend seine Denkwürdigkeit verdankte, sollte sich bald auf weniger erfreuliche Weise bemerkbar machen.
Sam war nicht besonders gut gelaunt, als man kurz vor zehn Uhr abends von ihm verlangte die Herrschaften vom Kojimachi-Viertel aus nach Hause zu kutschieren. Er diente den Camdens nun schon seit fünfzehn Jahren und hatte in dieser Zeit einiges von seiner früheren Gelenkigkeit eingebüßt. Winterliche Nachtfahrten verursachten ihm Gliederreißen. Dementsprechend wortlos saß er auf seinem Kutschbock und lavierte das Pferdegespann durch die engen Gassen der Stadt.
Zu dieser Zeit gehörte eine Beleuchtung längst noch nicht zur Grundausstattung jener urbanen Einrichtungen, die man
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