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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erhabene Stille. Geoffrey empfand die eigene Winzigkeit an diesem Ort stets in einer Weise, die er nie völlig begriffen hatte. Aber vielleicht lag ja gerade das in der Absicht der Erbauer solch monumentaler Gotteshäuser. Sie waren steinerne Parabeln für die Ordnung des Universums: die Kirche riesengroß und die Gläubigen mikroskopisch klein. Zum Glück gab es draußen noch den Himmel, unter dessen Gewölbe selbst dieses gewaltige Bauwerk nur ein Staubkorn war.
    Kurz hinter dem Eingang wandte sich Geoffrey nach rechts, wo sich die Great Cloisters befanden, der große Kreuzgang der Abtei. Gemessenen Schrittes erreichte er diesen stillen Ort, an dem er seinen Gedanken etwas Auslauf verschaffen wollte. Die Mittagssonne warf ihre Strahlen in den begrünten Innenhof. Geoffrey konnte dem friedlichen Anblick nicht widerstehen und trat ins Freie. Von den Wirren der Welt draußen war hier nichts zu spüren. Den freundlichen Flecken an der Südflanke des gewaltigen Kirchenschiffs umgab eine Bordüre aus gotischen Spitzbögen, deren steinernes Maßwerk und kunstvoll geschmiedete Gitter das Tageslicht siebten, bis es nur noch als feiner Nebel im umsäumenden Wandelgang hing.
    Gedankenverloren ließ Geoffrey seine Augen durch die Schatten des Kreuzgangs wandern, als ihn eine plötzliche Unruhe ergriff. Viele kennen dieses Gefühl des Beobachtetseins, das einen packt, noch ehe man den Beobachter sieht. Geoffreys Sinne waren mit einem Mal angespannt. Sein Atem ging flach. Wachsamer als gerade eben noch setzten seine Blicke ihren Erkundungsgang fort. Sie tasteten sich an der Nordseite des Kreuzgangs entlang, zielstrebig auf die Stelle zu, hinter der sich Poet’s Corner befand, jener Winkel der Abtei, der Englands großen Dichtern gewidmet war. Dort entdeckte er den Schemen.
    Eine eisige Kälte kroch ihm vom Nacken her über die Kopfhaut, in die Schultern und von dort in den ganzen Körper. Geoffrey stand reglos in der Augustsonne und fror wie im Januar. Starr blickte er durch das Gitterwerk ins Dunkel des Kreuzgangs, aber das helle Licht hier draußen ließ ihn dort nicht mehr erkennen als eine schwarze Säule, die fast völlig mit dem Schatten verschmolz. Fast gelähmt vor Angst zermarterte er sich das Hirn, grub nach Erinnerungen – gab es dort drinnen eine Statue, eine Marienfigur mit Schleier vielleicht oder irgendetwas anderes, das diesem Schemen den Schrecken nehmen konnte?
    Ihm wollte beim besten Willen nichts einfallen. Die schattenhafte Gestalt beobachtete ihn immer noch – so denn Leben in ihr war. Aber das stand für Geoffrey außer Frage. Wer sonst konnte ihm an einem solchen Tag eine derartige Kälte schicken? Er wollte die Antwort gar nicht erfahren, jedenfalls nicht jetzt, nicht hier. Alles, woran er denken konnte, war Flucht. Seine brennende Furcht brachte die Starre in den Gliedern zum Tauen. Abrupt wandte er sich von dem Schemen ab und lief in entgegengesetzter Richtung aus dem Innenhof hinaus.
    Zu seinem Unglück hatte er einen Fluchtweg gewählt, der in eine Sackgasse mündete. Er rüttelte an verschlossenen Türen und vergitterten Pforten, rief sogar ein paar Mal laut »Hallo!« und »Ist da wer?«, aber niemand antwortete. Einen Moment lang erwog er die Möglichkeit ins Kapitelhaus zu fliehen, doch auf dem Weg dorthin hätte er dem Schemen bedenklich nahe kommen müssen, nur um nachher im Chapter House vielleicht in einer Falle zu sitzen. Nein, der einzige freie Weg hinaus schien der zu sein, durch den er hineingelangt war. Pochenden Herzens drückte sich Geoffrey an die Wand und versuchte angestrengt zu erkennen, ob sich jenseits des Innenhofs etwas bewegte. Aber das war so gut wie unmöglich. Das Maßwerk und die Eisengitter in den Fensterbögen verwischten ihm den Blick. Drüben existierte nichts als Dunkelheit.
    Zaghaft begann er einen Fuß vor den anderen zu setzen, schlich sich leise auf den Ausgang zu. Was sollte er auch anderes tun? Einfach nur stehen und abwarten, bis der Schatten sich nach seinem Wohlergehen erkundigte? Dann besser doch eine würdelose Flucht. Als Geoffrey um die Ecke in den Gang Richtung Osten spähte, war dieser leer. Nicht einmal eine Statue stand dort. Ein neuerlicher Schub von Furcht beflügelte seine Füße. Er rannte zum Kirchenschiff, brüskierte dort eine Gruppe von Geistlichen und stürzte auf den Vorplatz hinaus.
    Auch hier draußen fühlte sich der Earl of Camden nicht mehr sicher, sondern lief weiter, zur Verwirrung etwaiger Verfolger nicht den Weg, den er gekommen

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