Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
die Charing Cross Road einbog, dann schwamm man durch ein Meer von Glühbirnen. Elektrizität war längst kein Wunder mehr, aber immer noch eine glänzende Sache.
Vor zweihundert Jahren war Buckingham Palace nur ein Landhaus gewesen. So gesehen gehörten die jetzigen Nobelviertel am Hyde Park damals noch zur Wildnis. Der Stadtteil Camden dagegen lag im wirklich historischen Kern von London. Ihm verdankte David seinen Namen. Genauer gesagt war es irgendein Mensch, der früher einfach nur Pratt geheißen hatte, bevor man ihm das Anhängsel aufschwatzte. Pratt hatte sich bis zum Lordkanzler der Krone hochgedient und dafür überschüttete ihn König George III. dann mit einem Vorrat von Adelstiteln, der bis zu David Viscount of Camden reichte. In den amtlichen Dokumenten trug selbst David noch den alten Familiennamen, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, sich David Pratt zu nennen. Camden war für ihn längst zu seinem einzigen, dem »richtigen« Namen geworden.
Am Montag, dem Tag nach der Ankunft, begab sich Geoffrey ins Foreign Office, das Auswärtige Amt. Von Camden Hall bis nach Whitehall war es nur ein Katzensprung. Er ging daher zu Fuß.
Im Foreign Office erfuhr er von dem Einfall der Deutschen in Belgien und von Englands emsigen Bemühungen die formelle Kriegserklärung in die Wege zu leiten. Ein Staatssekretär bedankte sich im Namen des Ministers bei Geoffrey für seinen jahrelangen treuen Dienst an der englischen Krone und versprach neue Verantwortungsbereiche, die man ihm in Kürze übertragen wolle. Sollte es überhaupt ein Kräftemessen mit Kaiser Wilhelm II. geben, würde das in ein paar Wochen auch vom Tisch sein. Danach müssten einige »diplomatische Häuser« in Europa von Grund auf neu errichtet werden. Dabei seien die attestierten Fähigkeiten des Earl of Camden mehr als gefragt. Was er wohl von einem Botschafterposten in Rom halte?
Geoffrey verließ das Foreign Office vier Stunden später mit einem zwiespältigen Gefühl. Erfreulich waren gewiss die Äußerungen des Staatssekretärs bezüglich seiner weiteren diplomatischen Laufbahn. Aber Geoffrey war Realist genug, um derartige Anspielungen nicht überzubewerten. In finanzieller Hinsicht musste er sich jedenfalls nicht sorgen. Selbst wenn sein Land keine Verwendung mehr für ihn hätte, könnten noch seine Urenkel vom Camden-Vermögen zehren – einen gesitteten Umgang mit dem Geld vorausgesetzt.
Diesen ermutigenden Aussichten stand die politische Großwetterlage entgegen. Das Schönreden des heranrollenden Krieges machte Geoffrey fast krank. Dagegen war der Anschlag, dem am vergangenen Freitag der französische Sozialistenführer Jean Jaures zum Opfer gefallen war, geradezu eine Bagatelle, wäre es zumindest gewesen, wenn nicht gerade Jaures die allgemeine Kriegslüsternheit so vehement verurteilt hätte – schon ein seltsamer Zufall, dass es ihn gerade jetzt treffen musste…
Geoffrey fühlte sich innerlich zerrissen. Er spürte seine Verantwortung gegenüber Maggy, David und den vielen Menschen, die bei ihm in Brot und Arbeit standen. Auf der anderen Seite quälte ihn die Last seines Wissens. Er hatte einmal geglaubt Sand in das Räderwerk des Weltenplans streuen zu können, um das scheinbar Unvermeidbare doch noch aufzuhalten. Lange war ihm das Glück hold gewesen. In der Londoner Gesellschaft genoss er den Ruf einer männlichen Cinderella, hauptsächlich wegen der geheimnisvollen Aura, die seine ungeklärte Herkunft umgab. Aber dann war David geboren worden und mit ihm das neue Jahrhundert. Seit jener stillen Nacht vor nun bald fünfzehn Jahren hatte Geoffrey gelernt seine Ohnmacht zu erkennen. Akzeptieren konnte er sie nie.
Möglicherweise war es ja der Gedanke an seinen Sohn, der Geoffreys Schritte beim Verlassen von Whitehall nach rechts anstatt links lenkte. Eine alte Erinnerung hatte sich gemeldet und ihn in diese Richtung gelockt. Er ließ Big Ben und die Houses of Parliament links liegen und strebte geradewegs auf Westminster Abbey zu.
Als Geoffrey das fünfhundert Fuß lange Kirchenschiff betrat, war er überwältigt. Zuletzt hatte er hier vor zwanzig Jahren gestanden. Es war damals der erste Kirchenbesuch seit einem gewissen Ereignis, das seinerzeit schon ein Dutzend Jahre in seinem Gedächtnis nistete. Er hauste noch immer dort.
Wie schon vor zwei Jahrzehnten ließ er auch jetzt die einzigartige Atmosphäre der Abtei auf sich wirken. Weder tuschelnde Besucher noch jubilierende Chöre störten zu dieser Zeit die
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