Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
ließ ihn auf den Rasen am Wegrand gleiten und krempelte die Ärmel hoch. »Jetzt komm schon, gib mir Saures«, forderte er den Inder nochmals auf.
    Balu wollte noch immer nicht.
    David tänzelte ein wenig auf dem Rasen herum und nahm plötzlich eine unbewegliche Stellung ein, leicht geduckt, die Arme nach vorne genommen, voll konzentriert. »Ich bleib sogar ganz still stehen«, lockte er. »So müsstest selbst du mich bekommen.«
    Endlich hatte seine Triezerei bei Balu das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Inder riss sich den Rock vom Leib und legte ihn nebst Gehstock ebenfalls ins Gras. Dann hinkte er, gleichfalls geduckt, auf das halbwüchsige Großmaul zu. Als er nur noch um Armesweite entfernt war, schnellte er plötzlich voran, machte eine für seine Behinderung erstaunlich elegante Drehung – und schlug rücklings auf dem Rasen auf.
    »Dieser Griff gehört zur Grundausbildung im ju jutsu« , erläuterte David ohne jede Häme.
    Balu Dreibein bedachte ihn aus seinen stets etwas blutunterlaufenen Augen mit einem überraschten Blick.
    »Geht es dir gut, Balu?«
    »Ja, Sahib.«
    »Willst du es nochmals versuchen?«
    »Ja, Sahib.«
    David runzelte zwar verwundert die Stirn, aber er ließ es geschehen. Am Resultat änderte sich wenig: Balu Dreibein versuchte es diesmal mit einer Finte, David nutzte den Schwung des Angreifers und der Leibwächter drückte ein weiteres Stückchen Rasen platt.
    Es gelang David nicht ganz, sich ein Grinsen zu verkneifen. Er wollte Balu ja nicht bloßstellen, sondern lediglich Ruhe vor ihm haben. Aber die stille Freude darüber, das in einem fernen Land Gelernte, monatelang aber nur im Schattenkampf Geübte nach wie vor so gut zu beherrschen, spiegelte sich trotzdem auf seinem Gesicht.
    Balus wachsamen Augen entging so schnell nichts. Leider deutete er die stille Freude des Jungen falsch. Er fühlte sich verhöhnt, sprang auf, war mit drei Sätzen bei seinem Stock und beinahe ebenso schnell wieder bei David.
    Der Sekundenprophet hatte den Angriff längst vorausgesehen. Geschmeidig wich er den Hieben des Inders eine Weile lang aus, bis er die Zeit für gekommen hielt, das schweißtreibende Spektakel zu beenden. Während einer neuerlichen Attacke fing er Balus drittes Bein genau an der vorausgeahnten Stelle ab, verlängerte den Stoß mit einem heftigen Ruck seiner Arme und ließ den Leibwächter einmal mehr durch die Luft wirbeln.
    Tosender Applaus vom Wegrand her machte die Zweikämpfer darauf aufmerksam, dass sie inzwischen mehr als ein Dutzend begeisterte Zuschauer gefunden hatten.
    »Wollen wir noch weitermachen?«, erkundigte sich David freundlich bei seinem Beschützer und reichte ihm die Hand.
    »Nein, Sahib.«
    »Und wirst du mir jetzt immer noch an den Fersen kleben?«
    Balu schüttelte eilig den Kopf und grinste. »Zu gefährlich, Sahib.«
     
     
    Die gemeinsame Körperertüchtigung im St. James’s Park hatte der Beziehung zwischen David und Balu eine neue Qualität verliehen, eine Form von gegenseitigem Respekt, die auf Menschlichkeit und nicht auf Standesgrenzen beruhte. Gleichwohl blieben die Unterhaltungen zwischen den beiden zunächst weitgehend auf das Vokabular der Körpersprache beschränkt.
    David vermisste die Gespräche mit dem Vater. Manchmal beobachtete er diesen aus einem Versteck heraus, wie er in Pantoffeln und Morgenrock zwischen Arbeits- und Schlafzimmer hin- und herpendelte, die Augen starr auf den Fußboden gerichtet, den Kopf eingezogen, als fürchte er plötzliche Keulenschläge aus überirdischen Gefilden. Anders als in den Jahren zuvor deutete nichts auf eine allmähliche Verbesserung von Geoffreys Zustand hin, eher im Gegenteil. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf David. Der spürte die innere Not, die Furcht und Zerrissenheit seines Vaters und litt infolgedessen selbst immer häufiger unter Schlaflosigkeit und Ängsten, die kein Gesicht für ihn hatten. Vielleicht hätte er diese Krise leichter meistern können, wenn sein Vater sich ihm endlich anvertraut hätte. Aber der hatte sich in ein unsichtbares Verlies gesperrt und wollte keinen Besuch empfangen.
    In Ermangelung männlicher Ansprache nahm David Kontakt mit Großonkel Francis auf.
    Das war eine Offenbarung! Mit der ihm eigenen Einfühlsamkeit stellte David nämlich fest, dass dieser alte Mann gar nicht so verrückt war, wie er sich meist den Anschein gab. Sein scheinbarer Altersschwachsinn glich eher jener besonderen Art von selektiver Gehörlosigkeit, die vorzugsweise von älteren Leuten

Weitere Kostenlose Bücher