Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Junge müsse nur sicher sein und solle nachts im eigenen Bett schlafen, alles andere sei zweitrangig. »Schicke ihn nicht nach Eton oder Harrow. Da verlieren wir ihn.«
Was immer er auch damit gemeint haben mochte, nach einigem Widerspruch (Geoffrey schien ausgerechnet gegen diese Schule allergisch zu sein) setzte Maggy ihren persönlichen Favoriten durch. Die Westminster School erfüllte alle Voraussetzungen: Sie nahm interne und externe Schüler, war der benachbarten Abtei angeschlossen und wurde seit kurzem von einem Reverend geleitet, der einen vorzüglichen Ruf besaß.
Maggy hatte vergessen ihren Sohn nach seiner Meinung zu fragen, was dieser ihr sehr verübelte. In ihrer glorifizierenden Schilderung dieser kirchlichen Bildungsanstalt gab es nämlich einige Lücken, die sich vor David bald als Abgründe auftun sollten.
Besonders die Schuluniform war David zuwider. Er beklagte sich ja nicht, dass er im Einheitsdress herumlaufen musste, schon in Tokyo hatte er sich damit abgefunden. Erniedrigend war für ihn vielmehr die Art der Verkleidung: Die Schüler der Westminster School erkannte man an ihrem schwarzen Frack.
Noch bevor David das Gehege seines zukünftigen Pennälerdaseins zum ersten Mal betrat, hatte er bereits aus einer eigens dafür gedruckten Broschüre einige wichtige Informationen bezogen, die ihm seine reibungslose Integration in die Schülerschaft erleichtern sollten. In dieser Schrift wurden Feinheiten beleuchtet, die für die Persönlichkeitsbildung eines heranreifenden Menschen ungemein wichtig waren. Unter anderem hieß es dort, dass auf den Schulgängen neben Frack und Zylinder unbedingt ein zusammengerollter Regenschirm mitzuführen sei. Über andere Details der Garderobe schwieg sich der Leitfaden schamhaft aus. Nur ein Beispiel: Der Frackkittel, ein schwarzer Bolero mit Schwalbenschwanz, wurde von den Schülern liebevoll »Arschkühler« genannt. Nichts davon im Einführungsheft. Das Thema »Tragekomfort« wurde ähnlich stiefmütterlich behandelt. Ein oben aus der Jacke quellender großer weißer Kragen sorgte dafür, dass der Schülerkopf auch bei extremer Langeweile nicht zur Seite kippen konnten. Leider unterband er auch weitgehend die Blutzufuhr zum Gehirn. Der harte Schulalltag öffnete David für so manches die Augen, was in dem Pamphlet unerwähnt blieb.
Bevor im September die Schule offiziell ihre Pforten öffnete, lud der Rektor, ein gewisser Reverend Dr. Costley-White, seine Neuerwerbung und deren Mutter auf eine Tasse Tee in sein Büro ein. Er halte es für eminent wichtig, einmal völlig unbelastet mit seinen neuen Schülern zu plaudern, bevor für sie der Ernst des Lebens beginne, erklärte der noch erstaunlich junge Rektor seinen Gästen. David saß im neuen Schulfrack kerzengerade auf einem harten Stuhl vor dem Schreibtisch des Geistlichen, seine Mutter daneben. Balu Dreibein leistete einer Ritterrüstung Gesellschaft, die neben dem Eingang stand.
Das Gesicht Dr. Costley-Whites war von einem maskenhaften Lächeln beherrscht, das so schnell nichts erschüttern konnte, auch Situationen nicht, wie er sie an diesem Nachmittag erleben musste. Der große Geistliche war eine Respekt einflößende Person, von den Schülern gefürchtet, vom Lehrkörper hofiert. Wenn er seine neuen Zöglinge bei Tee und Gebäck begrüßte, war er schüchterne Zurückhaltung gewohnt. Es musste ihn irritiert haben, als er Maggy und David von seinen Schokoladeneclairs anbot, welche die Countess auch erwartungsgemäß ablehnte, der junge Viscount aber völlig unverhofft goutierte. David hatte schon ein zweites Mal zugelangt, als er seinen Fehler bemerkte. Schnell legte er das Eclair wieder auf die silberne Platte zurück. Der lächelnde Reverend bewies eiserne Selbstbeherrschung.
»Sie scheinen mir ein aufgeweckter junger Mann zu sein, Viscount Camden.«
»Vielen Dank, Sir. Ich gebe mein Bestes.«
»Wie vernünftig von Ihnen! Sagt doch schon die Heilige Schrift: ›Geben ist beglückender denn Nehmen.‹«
Der Reverend und sein neuer Schüler nickten in stillem Einvernehmen. Dann wanderten ihre Blicke gleichzeitig zu dem herrenlosen Schokoladeneclair hin.
Die griechische Mythologie hält für fast jede Lebenssituation ein passendes Bild bereit. Natürlich machte der erste Tag an der Westminster School da keine Ausnahme. In den Götter- und Heldenepen der alten Griechen beansprucht der Räuber Prokrustes für sich den Part des Bösewichts. Da er nur ein einziges Gästebett besaß, wurde jeder, der
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