Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
eingesetzt wird, denen die pausenlose Bevormundung durch ihre Lieben auf die Nerven geht.
Großonkel Francis war mindestens vierzig Jahre seines Lebens auf den sieben Weltmeeren umhergefahren, hatte noch vor der Pensionierung seine geliebte Ehefrau Martha an den Typhus sowie einige Jahre später seinen einzigen Sohn Henry an die Buren verloren und seitdem gegen das Gefühl der Nutzlosigkeit angekämpft. Daraus entsprang eine einsame Verbitterung, für die David durchaus Verständnis aufbrachte. Das sagte er auch seinem Großonkel und in der ihm eigenen Weise, die Wahrheit auszusprechen, fügte er hinzu: »Aber jetzt hast du ja mich, Onkel Francis. Wenn du willst, bin ich ab heute dein Enkel.«
Der alte Mann schlug ein. Das machte es für David zwar nicht auf Anhieb leichter, Seemannsgarn und Wahrheit in Großonkel Francis’ Erzählungen auseinander zu halten, aber allmählich bekam er ein Gehör für die feinen Untertöne, die das eine von dem anderen unterschieden. Auf diese Weise gewann er einen neuen Freund. Und wenn die beiden mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Gleichschritt durch Camden Hall marschierten, dann schüttelte so mancher Bediensteter ob des merkwürdigen Bildes heimlich den Kopf: Ein Junge mit einem Greis, beide mit weißem Haar, die über nautische Probleme diskutierten und sich über die Qualität des Schiffszwiebacks beschwerten – das war nicht jedermanns Vorstellung von einem anständigen englischen Aristokratenhaushalt.
Es ist bereits erwähnt worden, dass David sein Geburtsland nie ganz aus den Augen verlor. Er schrieb sich regelmäßig mit Yoshi, wenn auch nicht so oft wie ursprünglich gelobt. Dadurch erfuhr er Neuigkeiten aus Japan, über die sich offizielle Quellen beflissen ausschwiegen. Ohnehin tröpfelten Nachrichten von dort nur selten nach Europa. Aber wenn David eine auffangen konnte, dann ließ er sie sich wie Met auf der Zunge zergehen. Erst nach dem Fortgang aus Tokyo wurde ihm bewusst, wie sehr er dieses Land liebte, das doch angeblich nicht einmal seine Heimat war. Heimat? Was für ein rätselhaftes Wort!
Manche mochten die Kriegserklärung Japans an das deutsche Kaiserreich als Ehrenpflicht ansehen, doch es war mehr als das: für die weisen Staatsmänner Nippons eine schlaue Investition, die sich in der Zukunft bezahlt machen sollte, für David aber nur eine neue Bestätigung seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Mächtigen. Wie wohl Yoshi darüber dachte? Und wie erst Hito, dem nichts ferner lag, als anderen Leid zuzufügen?
Dessen Vater, Kronprinz Yoshihito, operierte inzwischen unter dem Namen Taisho. Diese Devise des einhundertdreiundzwanzigsten Tennos stand für »Erhabene Rechtschaffenheit«. David zermarterte sich den Kopf, wie ein von Schwachsinnsanfällen geplagter Totenkopfhusar, der seine Untergebenen mit einer Reitpeitsche traktierte, diesem Motto Rechnung tragen konnte.
Die Kaiserin-Witwe Haruko mochte ähnlich gedacht haben. Sie hatte Kaiser Meiji vierzehn Kinder geschenkt, deren Gesundheit allerdings einiges zu wünschen übrig ließ. Vier ihrer Söhne waren als Kinder und fünf Töchter in Jugendjahren gestorben. Ob Zweifel am Durchhaltevermögen ihrer Sprösslinge letztlich den Ausschlag gaben, mit Yoshihito den Sohn einer Konkubine auf den Thron zu heben – wer konnte das schon sagen? Für die Kaiserin-Witwe war das jedenfalls eine inakzeptable Wahl Sie verstarb noch vor der für Herbst 1914 geplanten feierlichen Inthronisierung Yoshihitos. Ohne ihr Zutun hatte sie ihrem ungeliebten Stiefsohn damit einen letzten Seitenhieb verpasst: Den Trauerjahren für Kaiser Meiji folgte nun das pietätvolle Innehalten für Haruko.
Derlei Nachrichten halfen David die eher betrüblichen Entwicklungen in seiner näheren Umgebung für kurze Zeit zu vergessen. In diesem Zusammenhang muss nun ein Thema angerissen werden, das David einige schmerzvolle, wenn auch nicht gänzlich schädliche Veränderungen auferlegte. Jetzt soll von Westminster die Rede sein, genauer gesagt von der Westminster School.
Maggys ausdrücklicher Wunsch für ihren Sohn war eine Schule, die folgenden Anfordernissen entsprach: Sie musste einen tadellosen Ruf besitzen und sie sollte konfessionell sein. Eine solche zu finden gelang ihr vor allem durch die tatkräftige Unterstützung von William H. Rifkind, dem Familienanwalt, der sich nach Kräften bemühte den Camdens während ihrer häuslichen Führungslosigkeit Halt zu geben. In einem lichten Moment hatte Geoffrey verlangt, der
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