Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
besser wäre – sie samt Inhalt in die Themse zu werfen.«
Maggy sprang auf, umrundete den Schreibtisch und umschlang Geoffrey mit den Armen. Ihr Kopf lag an seiner Brust, während sie schluchzte: »Höre endlich auf von deinem Tod zu sprechen, Liebster! Was ist nur in dich gefahren, dass dich dieser Gedanke nicht mehr loslässt?«
Geoffrey küsste Maggy auf den Kopf. Mit der Hand strich er zitternd über ihr Haar. Dann suchte sein gebrochener Blick die Augen des Sohnes und er begann bitterlich zu weinen.
Als am Dienstagmorgen die Gazetten zu Englands Kriegseintritt applaudierten, hielt David zunächst das für den eigentlichen Grund der desolaten Gemütsverfassung seines Vaters. Doch während die Augusttage in der sommerlichen Sonne dahinschmolzen, wuchs der Eisberg noch, in dem Geoffreys Geist gefangen war. Der Arzt diagnostizierte eine tiefe Depression, möglicherweise die Folge übergroßer Erschöpfung. Er verordnete eine Therapie aus Johanniskraut und viel Ruhe, versprach die baldige Zusendung seiner Liquidation und empfahl sich wieder.
Aber Schlaf und Ruhe allein konnten Geoffreys rätselhaftes Leiden nicht heilen. Er verbrachte ganze Tage hinter zugezogenen Vorhängen im Bett. Und wenn er wachte, dann schloss er sich in sein Arbeitszimmer ein, wie an jenem Montag nach seinem letzten Stadtgang. Er nahm weder an den gemeinsamen Mahlzeiten teil noch suchte er das Gespräch seiner Familie. Hin und wieder tauchten unter der Tür liederlich gefaltete Zettel auf, die seine Anweisungen enthielten. Tut dies oder lasst das, stand da, hingeworfen mit fahriger Hand, dass man die einst so aufrechte Schrift kaum mehr lesen konnte.
Eine dieser Anordnungen nahm in Batuswami Bhavabhuti Gestalt an. Er sollte dem jungen Viscount hinfort als Leibwächter dienen. Maggy zeigte sich alles andere als erbaut von diesem Einfall ihres Mannes, weil Balu Dreibein, wie David diese Inkarnation eines väterlichen Geistesblitzes nannte, nicht einmal Christ war. Aber davon ließ sich Geoffrey nicht irritieren. Balu Dreibein hatte hervorragende Referenzen: Er war schon in zwei früheren Leben Leibwächter gewesen. Jedenfalls behauptete er das mit allem ihm zur Verfügung stehenden Ernst.
Batuswami Bhavabhuti vulgo Balu Dreibein hatte eine nicht unbeträchtliche Zeit seines Lebens damit zugebracht, verstockten Landsleuten die britischen Vorstellungen des Kolonialismus nahe zu bringen. Das ließ sich nicht immer ohne Zuhilfenahme von Waffen bewerkstelligen, wodurch Balu seinen ohnehin schon reichen Erfahrungsschatz aus früheren Existenzen nun auf den neuesten Stand der Technik bringen konnte. Zu allem Überfluss verfügte er auch über gewisse Begabungen in der waffenlosen Kampfeskunst.
Bald erkannten auch die vorgesetzten Stellen der Königlichen Armee, welche Talente da schlummerten, und begannen Balu dementsprechend einzusetzen. Von da an durfte sein Körper zahlreichen hohen Offizieren als lebender Schutzschild dienen. Über zehn Jahre lang hatte er erfolgreich die Sympathiekundgebungen indischer Freiheitskämpfer von seinen Herren fern gehalten.
Dann, an einem lauen Frühlingsabend, platzte eine Gruppe besonders motivierter Eiferer in ein festliches Dinner und zwischen Hummerscheren und gerösteten Singvögeln hatte Balu plötzlich die Wahl zu treffen, welchem der vielen Bedürftigen er seinen Schutz angedeihen lassen sollte. Er entschied sich – weisungsgemäß – für seinen Vorgesetzten, einen hoch dekorierten General, und zu Ungunsten des Kochs, der den Gästen im Augenblick des Überfalls gerade seine kulinarischen Kreationen vorgestellt hatte. Während die ungebetenen Besucher mit dem bedauernswerten Küchenchef Dinge anstellten, die der höchstens seinen gemästeten Truthähnen zugemutet hätte, kämpfte Balu als Tiger von Meghalaya (eine seiner älteren Reinkarnationen) um das Leben seines Herrn. Er tat es mit Erfolg, wenn auch unter Einbuße seines linken Fußes.
Der General war ein Gentleman. Obwohl ihn der Ausfall seines Kochs noch lange schmerzte, wollte er sich unbedingt an Balu erkenntlich zeigen. Also schleifte er den indischen Lebensretter mit nach England, zeigte ihn überall herum, schenkte ihm einen prächtigen Gehstock und ließ ihn dann laufen.
Hinfort verfügte Balu über drei Beine, teils aus Holz und teilweise aus Fleisch und Blut, was Davids Namenswahl hinreichend erklären sollte. Der Inder hatte Geoffrey glaubhaft versichert, dass dieser Umstand seine Effizienz als Leibwächter nur noch erhöhe. Wie
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